Ein Gedichtband von Birgit Kreipe

Allen an Lyrik Interessierten sei der zweite Gedichtband von Birgit Kreipe empfohlen. Er heißt „Soma“, ist voriges Jahr im kookbooks-Verlag erschienen und enthält als erstes die auf zwei Zyklen aufgeteilten Sonette, mit denen die Autorin vor drei Jahren den Lyrikpreis München gewann. Die Form des Sonetts, lobten damals die Juroren, verwende Birgit Kreipe dazu, die Flut der auf sie einstürzenden Bilder zu dämmen. Der dritte Zyklus, „kinderheim“, offenbart in Langversen, die jedoch nie eine halbe Seite übersteigen, eine Nähe zum Rollengedicht, wobei das erste und das letzte Gedicht denselben Schlussvers haben: „aber ich bin doch längst ausgewandert! und die kinder auch!“ Die Gedichte haben eine Tendenz zur Teichoskopie, zur Mauerschau, die an sich dem Drama zugehört, und in der die Rollen von Sprecher und Angesprochenem strikt getrennt sind. Was das lyrische Ich mitteilt, taucht einmal da und einmal dort am Horizont auf, so dass sich erst am Schluss ein Ganzes ergibt; im nächsten Zyklus „pass auf, kleine mondsüchtige“ ist es das Aschenputtelgedicht, in dem das Märchen mit modernen Metaphern in Bewegung gesetzt wird: „die stiefschwestern erstarren / schachfiguren vor ihrem spiegel“ oder im letzten Vers „am himmel armeen von tauben“. In den folgenden Zyklen, in deren zweizeiligen Strophen der Zeilenabstand geringer gehalten wird, spielt das Du wieder eine größere Rolle. Das Wohlgefühl, das diese bilderreichen Gedichte vermitteln, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im entgegengesetzten Gefühl verwurzelt sind. Als Georg Trakl zu Beginn des Ersten Weltkrieges sein letztes Gedicht „Grodek“ schrieb, las er den Barockdichter Johann Christian Günther, dessen jähe Trochäen nahezu sprichwörtlich für innere Zerrissenheit geworden sind.
Hans-Karl Fischer