Untergegangene Welt
von Parish-Kostümbibliothek

Gediegenes Nymphenburg, ruhige Straße, Alleebäume, hellblau gestrichener Holzlattenzaun. Neun Stufen führen nach oben – und reinster Jugendstil empfängt den Besucher: Es ist die denkmalgeschützte Villa der Familie von Parish, das Domizil der Kostümbibliothek, eine Dependance des Münchner Stadtmuseums. Die Bibliothek umfasst 10 000 Bücher, 2000 Zeitschriftenbände, 13 000 Fotos, 27 000 Grafiken – und noch viel mehr: Der Besucher taucht ein in den Kosmos einer untergegangenen Welt. Im historischen Ambiente studieren hier Kostümbildner Details für ihre Operinszenierungen, Studenten der Mode- und Design-Akademie machen sich fit für eine Prüfung, Autoren werden fündig zu Themen jedweder Epoche oder Region. Eine überbordende Fundgrube ist die im Jahr 1901 errichtete Parish-Villa – eine Fundgrube für alle, die sich inspirieren lassen wollen.

Seit 1917 wohnten die Parishs in der Kemnatenstr. 50 – vorher waren sie in ganz Europa zu Hause. Ursprünglich aus Schottland stammend kam die Familie im 18. Jahrhundert nach Hamburg, reussierte dort im Bankwesen und im Handel. „Die Parishs waren eine europaweite Familie und sehr reich – vergleichbar mit den Rothschilds“, betont Esther Sünderhauf, die Leiterin der Kostümbibliothek. Edmund von Parish, Lebemann mit drei Frauen, starb 1916 und hinterließ Ehefrau Hermine und der gleichnamigen Tochter die Villa in Nymphenburg. Die beiden Damen sammelten unermüdlich und schufen damit den Grundstock für die jetzige Kostümbibliothek. 1970 vermachte Hermine von Parish junior ihre Villa samt Sammlung der Stadt München, für das dazugehörige Grundstück erhielt Parish eine stattliche Leibrente, die die Sammlerin in den Erwerb weiterer Stücke steckte. 1998 starb sie im Alter von 91 Jahren.

Esther Sünderhauf, promovierte Kunsthistorikerin, führt den Besucher durchs Haus. Im Keller lagern Tausende von Archivkästen mit Schachteln zur Geschichte der menschlichen Bekleidung. „Hier ist alles, vom Grasmantel vom Ötzi bis zur Mode der Gegenwart“, erklärt die Leiterin der Bibliothek. Im Erdgeschoss ist die Zeit im Jugendstil stehengeblieben: an den Wänden die originale Ausstattung à la Riemerschmid, ein Flügel im Salon, bis zur Decke reichende Bücherschränke im Arbeitszimmer der Hermine von Parish, ein Wintergarten. Im ehemaligen Esszimmer stehen eine gewaltige Anrichte und Schränke voll mit kostbaren Modezeitschriften.

Aufgeschlagen liegt eine Kassette mit Modekupfern bzw. handkolorierten Kupferstichen aus Modejournalen des Jahres 1830. „Von Kopenhagen bis Mailand und von Dublin bis St. Petersburg folgten Adel und gehobenes Bürgertum den in Paris und London gesetzten Modetendenzen“, so Esther Sünderhauf. Und zwar blitzschnell: Dank der europaweit verbreiteten Modejournale kleidete man sich tagesaktuell nach dem „dernier cri“.

In den oberen Stockwerken der Villa sind unter anderem noch ein Bildarchiv sowie Material aus dem Haus- und Familienarchiv der Parishs untergebracht. Noch immer kommt es vor, dass Archivmitarbeiterin Hess in eine verstaubte Schachtel unter dem Dachboden greift und bislang unbekannte Urkunden entdeckt.

Der Benutzer der Bibliothek kann all die Schätze nur in Bruchstücken im Lesesaal begutachten: Esther Sünderhauf und ihre Mitarbeiterinnen stellen – je nach vorheriger Anfrage – eine Mappe zum gewünschten Forschungsgegenstand zusammen. Da diese Arbeit oft Stunden in Anspruch nimmt, muss der Interessent knapp 39 Euro zahlen. Allerdings wird er reichlich belohnt – kann er doch in eine ferne Welt eintauchen, zu der nach dem Zweiten Weltkrieg übrigens auch eine Kunstschule gehörte. 28 Jahre lang wurden in der Kemnatenstraße junge Leute unterrichtet. Zu den Studenten dieser kunstgewerblich ausgerichteten Einrichtung zählten Raimund Böll, Sohn des Schriftstellers und Nobelpreisträgers, und der spätere Terrorist Andreas Bader. Als in Stuttgart-Stammheim gegen die RAF verhandelt wurde, musste auch Hermine von Parish als Ex-Dozentin der Kunstschule in den Zeugenstand. Die Dame forderte, das Gericht solle in Nymphenburg tagen – doch dieser Bitte kam man nicht nach. „Sie fühlte sich einfach als was Besseres“, meint Esther Sünderhauf. So gesehen bieten die Parish-Villa und ihre Kostümbibliothek erstaunliche Seiten – nebst etlichen Schätzen, die auf ihre Bergung noch warten.
Ina Kuegler

Von Parish-Kostümbibliothek, Kemnatenstraße 50, Tel: 089-17 77 17
kostuembibliothek.stadtmuseum@muenchen.de

In unsere Reihe „Münchens Literarische Orte“ stellten wir bislang vor: Substanz, Autorengalerie, La Cantina, Vereinsheim, Streitfeld und Haidhauser Literaturbox1