Vom Lyrik- bis zum Geschwister-Scholl-Preis – zu Besuch bei drei Preisverleihungen

Die Endrunde des lyrikpreises münchen ist eine intime und noch wenig bekannte Veranstaltung. Liebhaber der Szene und moralische Unterstützer für die sechs Kandidat-Innen der Endrunde bilden die Fangemeinde. Knapp 50 Plätze bietet der kleine Saal im alten Giesinger Bahnhof und dazu das schnörkellose Ambiente eines modernen, zweckmäßigen Versammlungsraums. Die Atmosphäre ist locker und entspannt. Das Bier der benachbarten Bahnhofsgaststätte nimmt man mit hinüber. Nüchtern die Dramaturgie der Bühne, beinahe wie bei Gericht. Auf der einen Seite der Bühne die drei professionellen Preisrichter an einem Tisch, ihnen gegenüber auf der anderen Seite Tisch und Stuhl für die Lyrik. Der Wettstreit beginnt. Nur fünf Minuten stehen jedem/jeder Nominierten zur Verfügung. Eine Dichterin nimmt Platz, sammelt sich und liest ihre Liebes-Lyrik vor. Die Vortragsweise wird bewusst nicht gewertet. Fast entzaubernd wirkt der sich an die Vorträge anschließende Dialog der Jury mit den KandidatInnen. Das ist der Preis für die Öffentlichkeit der Entscheidungsfindung. Das Publikum ist eingeladen, mitzureden, bleibt aber überwiegend bei seiner angestammt passiven Rolle.
Die zwei Preisträger des Jahres 2016, Arnold Maxwill und Christian Schloyer
waren mutig und originell. Verwunderlich, dass der lyrikpreis münchen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhält.

Die Verleihung des Tukan-Preises im Literaturhaus ist professionell organisiert. Der Bühnenhintergrund leuchtet in warmem Rot, Blumenschmuck neben dem Rednerpult, musikalische Umrahmung. Die vorderen Plätze sind reserviert. Das Kulturreferat der Stadt München ist vertreten, auch einige Stadträte. Alleluja, alleluja. Die Stimme der Sängerin ist dunkel wie ihr Haar, vibriert und trägt. Ein kurzer, unsicherer Blick in die Runde. Nein, es ist keine Veranstaltung zu Ehren Leonard Cohens. „Was glaubt ihr denn“? So lautet der Titel des Buches, dessen Autor, Björn Bicker an diesem Abend den Tukanpreis erhält. Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Publikum offen, unkonventionell, neugierig. Die Aufforderung, bei den Refrains der musikalischen Begleitung mitzusingen, wird von den Besuchern teils tapfer, teils routiniert erfüllt.

„Was glaubt ihr denn?“ Messerscharf zweideutig ist der prämierte Titel und lebensnah. Glaubensfragen werden schnell grundsätzlich. Sie können spalten, führen zu Schisma, zu Kreuzzügen, Verfolgung und Krieg. Wiebke Puls, nur der Herkunft nach evangelische Pfarrerstochter, trägt mit tiefen Timbre sirenengleich Cohens Lieder in deutscher Sprache vor. Ein Paradoxon? Alleluja! Welcher Gott ist gemeint? Bicker dokumentiert in seinem Werk mit dem Untertitel „Urban Prayers“ die ganze Bandbreite religiöser Haltungen und Meinungen. Eine Vielfalt frei von Rangordnung, Wertung, Stigma. Er gibt eine Kostprobe: im Stil eines antiken Chors, fordernd, eindringlich, selbstbewusst zur Selbstreflexion auffordernd werden die Aussagen getroffen, und Fragen entstehen wie von selbst. Die benachbarte ‚‚Mitsängerin“ mit der wundervollen Stimme hat man sofort zur Kirchgängerin gemacht. Fraglos? Heimweg. Draußen laufen schwer bewaffnete Polizisten durch die Nacht. Es ist wieder Montag, Pegida.

Der Geschwister-Scholl-Preis trägt einen großen Namen. Repräsentativ ist der Rahmen der Verleihung in der großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Presse und Fernsehen, bekannte Gesichter, namhafte Redner, Sektempfang. Die Atmosphäre ist feierlich, ernst und erinnert an den Besuch eines klassischen Konzerts. Bis zum Grußwort des Präsidenten der LMU gedämpfte Unterhaltung der circa 700 geladenen Gäste. Der für die Ehrung gewählte Ort ist in zweifacher Hinsicht beziehungsvoll. Zum einen als Ort der Verhaftung der Geschwister Scholl 1943, zum anderen durch den Beschluss der neuen bayerischen, demokratischen Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg .

Wem dieser Preis zugesprochen wird, der hat geistige Unabhängigkeit bewiesen. Der hat sich, wie die Namensgeber des Preises, mit seinem literarischen Werk unter höchstem Risiko exponiert und hat moralischen und intellektuellen Mut gefördert. 2016 geht der Preis an Garance Le Caisne für das Buch „Codename Caesar – Im Herzen der syrischen Todesmaschinerie“. Die Französin erzählt von einem syrischen Militärfotografen, der zehntausende Fotos von Toten aus den Kerkern des Assad-Regimes fertigen musste und diese unter Lebensgefahr außer Landes geschmuggelt hat. Ihr Buch ist ein Beitrag im Kampf gegen das Vergessen und soll der Strafverfolgung des Unrechts dienen.
Stefanie Bürgers

Fortsetzung „Worte verlieren …“