Kein verlorenes Wochenende

Lost Weekend, der andere Buchladen, und der Graphologe Ulrich Dittmann

Zwar stand nicht Billy Wilders Alkoholikerdrama bei der Namensgebung Pate, sondern John Lennons nicht ganz so düsteres Album „Lost Weekend“. Gemeint aber haben beide dasselbe, ein dem Suff, der Ziellosigkeit, der vertanen Zeit geopfertes Wochenende. Ein bisschen darauf sollen die Besucher wohl gestoßen werden, die am Montag, womöglich verkatert, sich an der Bar im Lost Weekend mit veganem Kaffee versorgen. Und durch die Bücher daran erinnert werden, dass sie es ebenso gut lesend und schreibend hätten verbringen können. Denn Lost Weekend in der Schellingstr. 3 in unmittelbarer Uninähe hat auch am Wochenende geöffnet.

Das und einiges mehr ist hier anders. Große Fenster, die den Blick ins Innere freigebig feilbieten. Im Vordergrund Tische und Stühle aus hellem Holz, viel gemischtes Publikum, mit Kaffeebechern, Kuchentellern oder Laptops hantierend, eine ansehnliche Bar. Im Hintergrund Regale und Tische mit Büchern, locker in Szene gesetzt. Boden und Wände aus Sichtbeton, ein paar Bilder, ein pink- und gelbfarbener Leuchtschriftzug prophecy. Minimalistisch, aber nicht überbetont. Lost Weekend bietet sich an als Buchhandlung mit veganem Coffeeshop, dazu Ausstellungen, Lesungen, Vorträge, Musik, ein Konzept, das sich regen Zuspruchs erfreut. Geschäftsführer Michi Kern hatte offenbar den richtigen Riecher, als er der Universität vorschlug, die seit der Insolvenz der Buchhandlung Heinrich Frank leerstehenden Räume mit diesem „Gemischtwaren-Angebot“ neu zu eröffnen. „Eine Neuauflage des vorherigen Ladens erschien mir ziemlich sinnlos. Die Kombination Bücher und Bar, der Gedanke, dass sich Leute hinsetzen, einen Kaffee trinken, zum Büchertisch schlendern, in die Regale gucken, ein Buch kaufen, derartiges schwebte mir vor. Dass sich der Laden als Treffpunkt und Arbeitsplatz entwickeln würde hatte ich so nicht vorausgesehen. Aber dadurch entsteht eine ganz tolle Atmosphäre, die Bücher strahlen etwas aus, das den Gesprächspegel senkt, die Sinne öffnen sich auf eine andere Weise als in einer normalen Bar, das verlockt die Leute, hier zu verweilen.“

Mit seinem bunten Lebenslauf, Gastronom, Nachtclub-Besitzer, Yogalehrer, dazu Philosophie-Studium, jetzt Buchhändler, verkörpert Kern diese Verknüpfung von körperlichem und geistigem Genuss. Dass ihn der etablierte Buchhandel nicht ernst nehme beeindrucke ihn nicht. Wer die Auswahl von Titeln beobachtet, mit der der Büchertisch alle vier Wochen neu bestückt ist, fühlt, dass Lost Weekend für ihn nicht einfach nur ein neuer Laden ist. „Bücher sind mir wichtig. Ich wähle aus meiner subjektiven Perspektive und im Austausch mit meinen Mitarbeiterinnen.“ Kern beschäftigt die beiden Buchhändlerinnen Irene Held und Caren Kamp sowie zwei Aushilfen.

Zugegeben, das Sortiment ist klein. Lost Weekend hat sich auf das Gesamtprogramm von Reclam spezialisiert, über 3.000 Bände der populären Reihe – was gerade nicht vorrätig ist, wird sofort bestellt –, dazu gibt es ein Angebot für Philosophie, Politik, Kulturwissenschaft, moderne Literatur, eine Auswahl an Graphic Novels und an internationalen Zeitschriften. Eine Besonderheit stellt das „curated shelf“-Regal dar. Wechselnde Kuratoren, Personen mit unterschiedlichsten Hintergründen, ganz nach
dem Vorbild von Michi Kern, sollen hier ihre Buchempfehlungen abgeben. Das gibt dem Laden eine eigene Prägung.
Einer von ihnen, Dozent für Literaturwissenschaften Dr. Ulrich Dittmann, setzt noch einen drauf. „Kern befreit mit Hilfe zuverlässiger Fachleute von den inflationär überbordeten Paletten bei Großanbietern. Den Büchern bleibt der individuelle Charme gewahrt.“

Dittmann kommt gerne ins Lost Weekend, gerade wegen des neuen Konzepts, dem, wie er sagt, Michi Kern gekonnt sein soziales Genie widme. Hier trifft er Leute, stöbert herum, holt ein bestelltes Buch ab, wobei meist ein weiteres dazu kommt. „Für einen Literaturwissenschaftler ist Schriftliches Lebenselixier, auch wenn zunehmend Ungenießbares das Hirn zu blockieren droht. Voraussetzung ist Papier, e-Books kommen nicht ins Haus.“ Den Mitbegründer der Oskar Maria Graf-Gesellschaft und bis Anfang 2015 ihr 1. Vorsitzender als Kurator zu bestellen lag auf der Hand. Einen Monat lang war Lost Weekend ganz auf OMG eingestellt, einem immer noch nicht genügend geschätzten Autor, wie Bewunderer und Erforscher seiner Werke Dittmann meint, wobei „ ‚Graf-Forscher’ klingt bei diesem Autor zu hochtrabend, behauptete er doch, stets tief stapelnd, ,von Literatur verstehe ich nichts’. Um ihm gerecht zu werden, muss man in die Geschichte einsteigen, die er erlitten und hinreißend gültig erzählt hat.“

Dittmanns Blick in die Zukunft der Bücherwelt sieht nicht so düster aus, wie viele prophezeien. „Wenn sich Angebot und Nachfrage so entwickeln wie im Lost Weekend – ich erlebe dort eine konzentrierte Hingabe an Lesen und Schreiben wie an ruhigen Tagen im Lesesaal der Stabi – bin ich optimistisch.“

Katrina Behrend Lesch

P.S.: In unserer Serie „Meine Lieblingsbuchhandlung“ haben wir bislang u.a. Lehmkuhl mit Hans Magnus Enzensberger, Colibris mit Dagmar Leupold, den Buchpalast mit Christoph Well und Glatteis mit Friedrich Ani vorgestellt.