Für Connie Palmen

Der Traum gebiert den größten anzunehmenden Zufall: In einem Restaurant setzt sie sich mit einem Glas Wein an meinen Tisch, genau mir gegenüber. Das kann doch nicht sein. Ich will es nicht glauben. Welch ein Glück. Sofort und unbedingt will ich ihr sagen, dass ich weiß, wer sie ist und ihr Logbuch gelesen habe. Das Logbuch. Diese hingekritzelten Notizen über Liebe und Tod. Und ich kann ihr jetzt alle Fragen stellen. Die nach ihren viel älteren Männern, die ihr beide weggestorben sind. Die nach ihrer Scham, dass sie schreibt und wie sie schreibt. Überschütten will ich sie mit Geständnissen über mein Hineingezogen-werden in ihre Sprache schon nach wenigen Zeilen, über meine Sucht, immer weiter zu lesen ohne anzuhalten, über meine Angst vor mir selbst während des Lesens, über die vergeblichen Selbstentfernungsversuche während der Lektüre, über mein Herzklopfen und meine Unduldsamkeit und mein erwartetes Erschrecken vor dem Ende ihres Textes.

Das Wort „Lesen“, sage ich unvermittelt stattdessen, unterscheidet sich im Deutschen von dem Wort „Leben“ nur durch einen Buchstaben. Wie ist das im Niederländischen? Sie reagiert gar nicht, sondern trinkt Wein. Was fange ich jetzt an mit ihrer Anwesenheit? Wie gelingt es mir, mich ihr gegenüber so zu äußern, dass ich sie nicht verletze oder sie mich missversteht? Was können meine Sätze bewirken? Bei mir selbst Kopfdruck, Wörterverlust, Sprachversagen. Sprechen statt schreiben über ihr Schreiben gegen das Vergessen? Lektüre als Erfahrung? Das geht nicht. Nicht in diesem Fall. Nicht bei ihrem Schreiben. Sie wird mich auslachen. Jetzt sieht sie mich zum ersten Mal an. Und lächelt.

Das ist alles nicht wahr. Die vielen unglaubwürdigen Tode in ihrem Buch, die vielen Toten. Andauernd sterben welche an Krebs. Das ist ihre Manie, wehre ich für mich ab. Oder eine Lebensbeschwörung, versuche ich mir zu erklären. Denn sie und er sind mit Körper und Seele verrückt nacheinander. Rasendes Verlangen. Sie liegen nebeneinander, die Arme um seinen Torso geklammert, ihr Bein um sein Bein gewunden; liegen übereinander noch nach seinem Tod. Sie will zu ihm, auf ihn, will ihn um sich und in sich haben. Mehr Liebe als Leben. ‚Man kann über den Tod nicht schreiben, ohne über die Liebe zu schreiben‘ hat sie geschrieben. Und über was schreibe ich? Diese vielen Toten, sage ich nur. Sie sagt: „Das verstehe ich nicht. Der Schriftsteller schreibt gegen den Tod an.“ Mir wird klar: Ich habe alles gelesen aber gleichzeitig alles überlesen und nichts verstanden. Ihre Erwartung, mein Schweigen, mein erschrockenes Gesicht, mein vollkommen vergebliches Lesen.

Jetzt beugt sie sich näher zu mir hin und sagt: „Wer der Angst vor dem Tod entflieht, verfehlt das Glück!“. Sie rückt noch näher. Ich kann ihren Wahrheitsanspruch an die eigene Lebensgeschichte nicht erfüllen, fürchte ich. Ich habe alles gelesen, will ich sagen. Es hat alle meine Gedanken zerschlagen, will ich sagen. Ich war hinterher ein anderer, will ich sagen. Aber ich weiß nicht, was für ein anderer, will ich noch hinzufügen. Sie trinkt das Weinglas leer, beugt sich weit über den Tisch, sieht mich an.

Ulrich Schäfer-Newiger