Lüschers erster Roman „Kraft“

Richard Kraft, Rhetorikprofessor aus Tübingen, reist ins Silicon Valley, um an einem wissenschaftlichen Wettbewerb teilzunehmen. In einem 18minütigen Vortrag soll begründet werden, warum alles, was ist, gut ist, und warum wir es dennoch verbessern können. Ausgedacht hat sich die Preisfrage, in Anlehnung an Leibniz’ Essay zur Theodizee, der Dotcom-Milliardär Tobias Erkner und für die beste Antwort eine Million Dollar ausgelobt. Dies die Ausgangssituation, die Jonas Lüscher in seinem ersten Roman entworfen hat, und eigentlich sollte die Bewältigung der Aufgabe niemandem so leicht von der Hand gehen wie Kraft, einem als brillant ausgewiesenen Denker und Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Walter Jens.

„Für die Anschlussfähigkeit ein roter Faden vom späten Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer, dann zur Abgrenzung ein paar Randmaschen aus der dichten Unterwolle Huntingtons, aus dem Querfaden heraus ein paar rechte Maschen eines obskuren, vermutlich zu Recht in Vergessenheit geratenen chilenischen Ökonomen aus der Chicagoer Schule, den er in den frühen Achtzigern gelesen und dank seines phänomenalen Gedächtnisses auch nach dreißig Jahren noch zitieren kann, eine halbe Nadellänge Finkielkraut für die Empörung, eine halbe Nadellänge Hölderlin fürs Gemüt, für die Authentizität ein paar Schläge aus einem eigenen, kürzlich im Merkur publizierten Aufsatz, und zur ironischen Imprägnierung, aber auch als vorsorglich offen gehaltener Fluchtweg, lässt er gerne noch ein paar Maschen Karl Kraus fallen.“
Mit einem einzigen Satz gelingt es Lüscher, seinen Protagonisten als Schwafler zu entlarven, der seine Zuhörer über den Haufen redet. Gleichzeitig offenbart er sich selbst als ebenso unterhaltsamen wie analytisch sezierenden Erzähler, der dem philosophischen Überbau der Handlung die Querstreben eines sich langsam verlierenden Lebens einzieht.

So erfährt der Leser, während Krafts intellektuelles Scheitern an der gestellten Aufgabe unaufhaltsam voranschreitet, Stück für Stück seines Werdegangs. Der Student, der „unter den Vielversprechenden als der verschrobenste Vielversprechende und damit auf geheimnisvolle Weise als der Vielversprechendste unter den Vielversprechenden“ gilt, seine Freundschaft mit István Pánczél, dem Vorzeige-Dissidenten, der 1981 bei einem Turnier der ungarischen Universitäts-Schachmannschaft im Westen allerdings bloß vergessen wurde, beider Auftreten als junge Salon-Reaktionäre mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher als politische Leitbilder, Krafts akademischer Aufstieg, parallel sein Misserfolg bei den Frauen, die er nur ins Bett bekommt, indem er sie so lange zuschwafelt, bis sie sich seiner erbarmen. Jetzt ist er finanziell und in seiner Ehe ziemlich am Ende und könnte sich mit der Preissumme, so er sie gewänne, aus allen Miseren freikaufen. Doch nun überfallen ihn die Zweifel, was er bis dato als Geisteshaltung provokativ zu Markte getragen hat, gehört hier zum Normalzustand. Das macht ihn geistig impotent. Dem alten Europa, symbolisiert durch den Hölderlinturm in Tübingen, wird der Hoover Tower gegenüber gestellt, Wahrzeichen auf dem Campus der Stanford University und Sitz eines neoliberalen Thinktanks, in dem eine mexikanische Putzfrau mit einem dröhnenden Staubsauger dem armen Kraft den Kopf leer saugt und ein Nahrungsmittelsubstitut namens Soylent den zeitraubenden Verzehr von „rotting ingredients“ ersetzt. Daran wird Kraft sich nicht die Zähne ausbeißen, aber im wahrsten Sinne des Wortes das Genick brechen.

Katrina Behrend Lesch

Jonas Lüscher
Kraft
Roman, 237 Seiten
Verlag C. H. Beck, München, 2017
19,95 Euro