X

Heute ging ich wieder einmal mit einem leeren Setzkasten die Friedhofstreppe hinunter durchs Blumengeschäft ins dahinter gelegene Treibhaus, um dort Vergißmeinnichtpflänzchen zu besorgen. Ich wandelte an den Frühbeeten vorbei ins Treibhaus, das mit einem Strohdach bedeckt ist, den langen Mittelgang entlang, und ging durch das blumenüberfüllte Treibhaus hindurch; ganz hinten sah ich bereits den schwarzhaarigen, großäugigen Kopf der Blumenverkäuferin Linda, die meiner seit einigen Tagen vielleicht doch geharrt hatte. Sie zog mich, indem sie mir den Setzkasten aus der Hand nahm und auf einem Blumentisch abstellte, auf einen der im Eck des Treibhauses stehenden Torfmullballen hinab. Rasch zog sie ihre weißen Schuhe, ihre schwarzen Strümpfe und das wiederum weiße Unterhöschen aus, doch danach, als sie mich empfangen hatte, wurde sie fast geistesabwesend langsam. Auch ich war apathisch, wie ich sagen muß. Die längste Zeit dachte ich an die gewohnten Bilder der Arbeit: Dregensteg, Zacher, Girchl und ich schaufeln ein Doppelgrab aus und stehen zuerst bis in Bauch-, danach bis in Brusthöhe im Grab drinnen. Endlich sehen nur noch unsere Köpfe aus dem Familiengrab heraus. Gut, daß ich das jetzt so von außen betrachten konnte; ich schlief mit Linda, um mit ihr sonst nichts zu tun zu haben.
Sogleich tauchten philosophische Denksprüche in meinem Kopf auf: »Willig sterben ist das Vorrecht des Resignierten«, darauf »Das Gestell west als die Gefahr«. Kragleber durfte mich dabei nicht erwischen. Er war es doch, der herrisch von mir gefordert hatte, ganz im Totengräberberuf aufzugehen. Nun wurmte es mich, daß ich dabei überhaupt hatte denken müssen; Linda und ich waren beide fertig. Als sie sich ihre rote Schürze zuknöpfte und sich die Haare aus dem Mittelscheitel strich, sagte die Blumenverkäuferin ruhig: »Vo de Lebadn mußd as hoin, von de Doudn kriagsd as nimma.« Dabei sah sie durch mich hindurch. Dann wickelte sie die Vergißmeinnichtpflänzchen in das Zeitungspapier ein, steckte sie in meinen Setzkasten, worauf ich mit der nun vollen Kiste das Treibhaus verlassen konnte. –

Wieder auf den Friedhofsplatz hinausgekommen, bemerkte ich die hoffnungsvollen Väter, die oben, unter dem so lauten Säuglingsheim standen, rote und weiße Rosen, wie es sich schickt, in Händen hielten. Sie gingen oben ein wenig verstört auf und ab, sie sahen abwechselnd mich an, abwechselnd auf den Friedhofsplatz hinüber, an meiner vergißmeinnichttragenden Person vorbei.

Fast jedesmal in der letzten Zeit, wenn ich durchs Friedhofstor trete und die Inschrift des ersten Grabsteines »Michael Kantinger, 1880 – 1940« lese, rutscht mir ein Satz des Philosophen Immanuel Kant durch den Kopf; heute dieser: »Allein ein Hinzukommen zum Möglichen kenne ich nicht. Denn was über dasselbe noch gesetzt werden sollte, wäre unmöglich.« Zum Glück hatte ich keine Zeit, über die Stelle aus der »Kritik der reinen Vernunft« nachzudenken, denn schon war Girchl mit einem Handkultivator aufgetaucht; er bleckte mich einmal kurz, mit seinen Goldzähnen an, steckte seine Zigarre (er rauchte eine Dannemann) wieder in den Mund und führte mich rechtschaffen schnaubenden Schrittes zum Grab hinüber, wo ich die Vergißmeinnicht aus dem Setzkasten einpflanzen sollte. –

XI
[…]
Am Friedhof scheint immerhin etwas im Schwange zu sein. Im »Schwan« hieß es beispielsweise gestern, der hiesige Gemeinderat wolle an Allerseelen über die Erweiterung des Friedhofs vorläufig endgültig beschließen. Der Kaschpar meinte, das Henning-Haus müsse abgerissen werden. Gleich darauf sagte der Schwankl, das Haus Tante Alwines müsse eigentlich stehen bleiben. Ich selbst hatte keine Angst vor dem Abbruch des Hauses, der mir einen triftigen Grund in die Hand spielte, von Gstöding wegzuziehen. Nur davor fürchtete ich mich, daß Kragleber, der die von uns Totengräbern ausgesetzen Maulwürfe inzwischen vergiftet hat, meine Eskapaden mit der Blumenverkäuferin entdecken könnte. Wegen ihr und meiner Fluchtgedanken kann ich Kragleber ohnedies nicht mehr in die Augen sehen – nur auf seine modernden Zähne noch. –

Hans-Karl Fischer  (aus: „Der Friedhof von Gstöding“, lieferbar über: P. Kirchheim Verlag, München)