Ein interdisziplinäres Symposion in München befasste sich mit der Zukunft der öffentlichen Bibliotheken.

Eine der schönsten Erinnerungen an Wim Wenders’ Film „Der Himmel über Berlin“ ist die Szene in der Bibliothek, die lesenden Menschen, das Lächeln, das über die Gesichter derer zieht, die die schweifenden Engel erkennen, vor allem aber das Wispern und Knistern, das Weben und Streben, das Rascheln, Zischeln und Flüstern – all die Geräusche, die einem den Aufenthalt im Lesesaal einer Bibliothek so lieb und wert machen. Es sieht so aus, als müsse man sich von dieser vertrauten Vorstellung verabschieden. Weil es im digitalen Zeitalter keine Bücher mehr gibt, jedenfalls keine, die man anfassen und in denen man blättern kann. Weil sich dann jeder seine Lektüre, wissenschaftliche oder unterhaltende, auf sein Laptop, Tablet oder Smartphone laden kann, und das überall, nur nicht unbedingt mehr in Lesesälen.

Dabei präsentiert sich die Gegenwart längst so. Neben den klassischen Druckwerken findet man in unseren Büchereien digitale Medien, Filme und CDs, internationale Zeitungen werden online gelesen, Bücher elektronisch ausgeliehen. Statt eng stehender Regale, platzraubender Karteikästen gibt es Sitzecken, schnelles, kostenfreies W-Lan, Kaffeeautomaten – und das wird genutzt. Von Kindern und Jugendlichen, die an den Bildschirmen spielen, von Schülern und Studenten, die sich der Fachliteratur bedienen, von Freiberuflern, die an ihren Laptops arbeiten. In unseren Büchereien pulsiert das Leben, sie sind zu Treffpunkten für alle Altersgruppen und alle sozialen Schichten geworden. Die Besucherzahlen klettern in die Höhe, man plädiert für längere Öffnungszeiten, auch am Wochenende. Was in der Stabi und den Unibibliotheken längst Usus, sollte wenigstens am Samstag möglich sein.

Münchens städtische Bibliothekenlandschaft kann sich sehen lassen: die zentrale Bibliothek am Gasteig, dazu 20 Stadtteilbibliotheken, fünf Bücherbusse, sieben Krankenhausbüchereien, die Juristische Bibliothek im Rathaus und last but not least die kürzlich in neuem Glanz wieder eröffnete Monacensia im Hildebrandhaus. 12,5 Millionen Ausleihen hat man jährlich gezählt, die Downloads elektronischer Bücher nicht gerechnet. Alles schön und gut, aber genügt die vorhandene Ausstattung überhaupt den geänderten Bedürfnissen der Nutzer? Ist die Architektur flexibel genug, sich diesen Anforderungen anzupassen? Und was werden das zukünftig für Nutzer sein in unserer so rasant sich ändernden Gesellschaft? Diese Fragen, auch hinsichtlich des anstehenden Umbaus des Gasteigs, veranlasste die Stadtbibliothek zu einem interdisziplinären Symposion. „Public! – Die Stadt und ihre Bibliotheken. Debatten über Architektur und urbane Öffentlichkeit“ sollte Fachleuten und interessierten Laien ein umfassendes Bild geben, vor allem auch über die Erfahrungen, die mit den neu gebauten Bibliotheken in anderen Ländern gemacht werden. Und deren Erfolg ist wahrlich beeindruckend. Francine Houbert vom holländischen Architekturbüro Mecanoo nennt Bibliotheken die wichtigsten öffentlichen Gebäude und vergleicht sie mit Kathedralen. Sie hat Europas größte Bibliothek in Birmingham, 2015 eröffnet, als einen „Palast fürs Volk“ entworfen, in dem sich jedermann willkommen fühlen soll. Und das Publikum strömt, an einem Samstag waren es 15.000 Besucher. Sie streifen durch die Dachgärten, konsumieren im Café, hören Musik, lesen oder sitzen einfach rum. Solch eine Wohlfühlatmosphäre müsse die Bibliothek von morgen ausstrahlen, sagt auch Rob Bruijnzeels vom Ministry of Imagination der Niederlande. Kein Ministerium aus der Welt von Harry Potter, obwohl es einem wie Zauberei vorkommen mag, dass die neue Zentralbibliothek in Gouda seit ihrer Eröffnung im Februar 250.000 Besucher verzeichnen kann, eine Steigerung von 30 Prozent. Nicht das gleiche besser, sondern anders machen ist Bruijnzeels‘ Leitsatz. Die Bibliothek als physischer Ort, als Lern- und Lebenswelt. So sind nur etwa 30 Prozent der Fläche für die Bücher da, der Rest besteht aus individuell genutzten Arbeitsplätzen, eine Medien-, eine Druck- und eine Kinderwerkstatt sowie ein Café.

Die 2011 eröffnete Zentralbibliothek in Stuttgart am Mailänder Platz, vom koreanischen Architekten Eun Young Yi entworfen, versteht sich als ein Ort der Freiheit, obwohl der quadratische Glaswürfel, von außen wenig einladend, sofort den Namen „Stammheim II“ verpasst bekam. Im Inneren, ein kontemplativer kirchenhoher Saal in Zartgrau mit Lichtauge an der Decke, herrschen klar die Bücher vor, dennoch gilt der Ort als coole Location für Werbefilme, Fotoshootings, Hochzeiten – allzu vielem Remmidemmi müsse allerdings ein Riegel vorgeschoben werden, sagt die Leiterin Christine Brunner, wenn auch nicht ohne Stolz.

Besonders intensiv haben sich die neuen Bibliotheken in Skandinavien diesem Konzept verschrieben, nämlich nicht mehr in erster Linie für die Bücher, sondern für die Menschen da zu sein. Gerade eröffnet wurde das Dokk1 genannte Haus in Aarhus, Dänemarks zweitgrößter Stadt, von den Architekten Schmidt Hammer og Lassen als Ort des Austauschs, multikultureller Treffpunkt und Symbol für die Wissensgesellschaft realisiert. Es gibt große Spielflächen für die Kleinsten, eine Lounge-Area für Teenager, tatsächlich aber auch Lesesäle, in denen Ruhe herrscht. Ein großer Mehrzwecksaal dient für Konzerte, Theatervorstellungen, Vorträge und Bürgerversammlungen. Und die neue Zentralbibliothek Helsinki setzen auf Bürgerbeteiligung, „weil Besucher/Nutzer etwas machen wollen, abgesehen von Lesen“, sagt Maija Berndtson, ehemalige Leiterin der Bücherei und in die Planung involviert. Das Haus soll 2018 fertig sein, und es wird sicherlich ein Erfolgsrezept.

Dass man in den Bibliotheken der Zukunft nach wie vor Bücher finden wird, daran wollen die Bauherren nicht rütteln, aber sie sollen darüber hinaus multifunktionell sein, den Zweck von Kultur- und Bildungsstätten erfüllen, für Theateraufführungen, Konzerte, Ausstellungen und Sonstiges zur Verfügung stehen. Sie sollen dem Mainstream der Nutzervielfalt folgen, als architektonische Wahrzeichen glänzen, der Eventkultur einen Tummelplatz bieten, und alle sollen sich wohlfühlen. Ob man in dieser schönen neuen Bücherwelt noch die Gedanken schwirren hört – wer weiß?

Katrina Behrend Lesch