Von Michael Laube

Susi stieg wie jeden Morgen in die S-Bahn und wusste nicht, dass sich an diesem Tag ihr Leben fast verändern würde. Man weiß das nie, jederzeit kann etwas Unvorhergesehenes passieren. Die Unfall-Kliniken sind voll von Menschen, die morgens noch nicht gewusst haben, dass sie abends im Krankenhaus liegen würden.

Aber Susi war noch nicht in dem Alter, in dem man die Unfallmeldungen in der Zeitung liest und sich freut, dass man noch gesund ist. Sie war mit ihren 16 Jahren naturbedingt mehr an männlichen Wesen ähnlichen Alters interessiert.

Susi schaltete wie immer ihr Smartphone an, um die passende Musik zu suchen. Hey baby, I think I wonna marry you … dröhnte in den Kopfhörer. Nicht schlecht, dachte sie, das muntert vor der Schule etwas auf. Wenn alles schiefging, blieb da noch die Hoffnung, dass einer das auch mal zu ihr sagen würde.

Eine Mail ihres Facebook-Freundes Carlo war eingetroffen. Der Tag begann gut. Das Outfit war ideal für die winterliche Jahreszeit. Über die schwarzen Leggins hatte sie grobe, dunkelgraue Wollstrümpfe bis zu den Knien hochgezogen. Die Füße steckten in schwarzen, wadenhohen Stiefeln. Über einer extrem kurzen, hellgrauen Hose trug sie einen schwarzen Anorak.

Zusammen mit ihren dunklen Haaren war Susi heute zufrieden über ihr schwarz-grau gestreiftes Aussehen. Die ihrer Meinung nach zu geringe Oberweite konnte sie gut im Anorak verstecken. Das Make Up war dezent, aber hoffentlich wirkungsvoll. Der Eyeliner war nicht zu stark aufgetragen und die Wimperntusche ließ die Wimpern seidig schimmern.

Alles also gut vorbereitet, um in der Männerwelt aufzufallen, auch wenn nicht immer der Traummann dabei war, meistens drehten sich die Falschen nach ihr um.

In letzter Zeit hatte sie in Facebook Carlo kennengelernt. Er war ihr über andere Freunde vorgeschlagen worden und sie hatte ihn als Freund akzeptiert. Nach dem Foto in Facebook war er sehr gutaussehend und er hatte ihre Freundschaft überraschend angenommen.

Nach einigen harmlosen Chats in Facebook gingen sie dazu über, sich ausführlichere Mails zu schreiben, und lernten sich so immer tiefer kennen. Er schrieb ihr von den Problemen mit seinen Eltern, die sich getrennt hatten, von seinen Zukunftsträumen als Cellist. Sie hatten sich noch nicht persönlich getroffen. Sie hatte mehrfach versucht, ihn zu einem Treffen zu bewegen, aber er hatte immer wieder Ausflüchte gefunden.

Susi hätte ihn gern gesehen, um ihm persönlich zu helfen, sie wollte über vieles mit ihm reden, auch über ihre eigenen Sorgen, hätte sich vielleicht gerne an ihn gelehnt, seine Nähe gespürt, mit ihm zusammen geträumt — und vielleicht könnte mehr daraus werden. Aber Carlo zögerte. Und sie hatte keine Ahnung, warum.

Er hatte 568 Freunde und Freundinnen, sie nur 124. Bei seinen Freundinnen waren sicher viele attraktive dabei, attraktiver als sie, aber warum schrieb er ihr so offen, vertrauensvoll. Stimmte das überhaupt, was er schrieb?

Carlo war an demselben Morgen wie immer unterwegs mit dem Bus in die Musikhochschule. Er hörte auf seinem iPod ein Klavierkonzert. Seine ganze Liebe gehörte der klassischen Musik, ein einziger weicher Ton seines Cellos konnte wunderbar sein. Die Musik half ihm über viele seiner Probleme hinweg, mehr als die Chats oder Mails mit Freunden im Internet. Es war eine andere Art der Kommunikation als Worte, die missverstanden werden konnten, die zu Ärger, Streit und Problemen führen konnten. Er hatte die Streitereien seiner Eltern noch in guter Erinnerung.

Vor einiger Zeit hatte er ein Mädchen in Facebook kennengelernt, die ein attraktives Foto von sich auf ihrer Seite hatte und ihm Mails schrieb, die nicht so naiv und oberflächlich waren wie die meisten. Im Laufe der Zeit hatte er sich verleiten lassen, ihr seine Sorgen mitzuteilen, er vertraute ihr. Sie schrieb verständnisvoll, hilfsbereit zurück und wollte sich mit ihm treffen, aber bisher hatte er sich nicht getraut.

Er hatte viele Freunde aus der Welt seiner Musik, aber keine feste Freundin und wagte noch nicht, eine tiefere Beziehung einzugehen, er wollte seine Unabhängigkeit nicht verlieren. Aber vielleicht war Susi es wert?

Ärgerlicherweise musste er heute nach den Vorlesungen zu seiner Mutter fahren, die bei ihrem Freund wohnte, den er nicht besonderes mochte. Er sollte für seinen Vater Unterlagen für das Scheidungsgericht holen. Sein Vater hatte keinen Kontakt mehr zu seiner Frau. Dazu musste er die S-Bahn nehmen. Er fuhr sonst nie diese Linie, aber es gab keine andere Möglichkeit.

Missmutig stieg er ein. Der Zufall ist nicht nur für Unfälle zuständig, sondern er arrangierte in diesem Moment auch gegenüber von Susi, die auf der Heimfahrt von der Schule war, den einzigen noch freien Platz. Carlo setzte sich. Sie sahen sich kurz an … doch sie erkannten sich nicht.

Leider waren ihre Fotos in Facebook nicht real. Carlo hatte einen Justin Bieber Verschnitt auf seine Seite gestellt, Susi das Foto einer blond gelockten Freundin im Bikini.

So saßen sich beide gegenüber, jeder hatte wieder die Kopfhörer in den Ohren und sie versanken in ihrer Musik und ihren Träumen. Einige Stationen später stieg Carlo aus.

Susi hatte nicht bemerkt, dass sich ihr Leben fast verändert hätte. Sie träumte weiter von der großen Liebe. Aber Träume sind ja manchmal viel romantischer als die Realität.