Jetzt fängt er wieder an zu schreiben, mein alter Freund Wolf, anstatt beim Schachspiel zu bleiben oder in seinem Labor. Seit Jahren droht er damit, wieder zu schreiben. Wie ich ihm drohe, die Violine zu spielen.

Gelegentlich reisen wir gemeinsam. Wenn wir im Zug nach Rom fahren oder nach Wien, bricht er plötzlich das Gespräch ab und sagt „übrigens, ich werde wieder schreiben.“ Fahren wir mit dem Pkw von München nach Paris, dreht er spätestens bei Ulm den Recorder leise und flüstert mir ins Ohr, „Max, ich schreibe wieder“.

Die Schreibdrohung stößt er ausschließlich im Fahren aus, erst wenn der Zug den Bahnhof verlässt, wenn der Wagen rollt, dann kommt die Drohung, als könnte sie sich nur in diesem flüchtigen Zustand des Reisens von seiner Zunge lösen, wäre sonst tief in ihm eingekapselt .

Dieser Weltschmerz, den er schon damals liebte in seinen Texten. Er zelebrierte als junger Mann sogenannte Dichterlesungen, warf sich einen dunkelblauen Bademantel um und trug mit stolzem Ernst seine Gedichte und Kurzgeschichten vor. „Mein Schreiben“ sagte er einmal „ist Eruption, Orgasmus, Epilepsie.“ Jahrelang hat er umgekehrt meine Gedichte und Stories mit ätzender Jauche übergossen, uns alle gefoltert mit „präzisen Textanalysen“. Denn so berauscht er war von seiner eigenen Lyrik, so unerbittlich fiel er über unsere, und vor allem über meine Texte her.

Bis eines Tages eine Frau laut lachte, während er las. Er las – sie lachte. Sie war attraktiv, rothaarig und ein, zwei Jahre älter als ich. Marisa, hieß sie nicht Marisa? Doch, so hieß sie – Marisa. Keine Ahnung, woher sie plötzlich kam. Sie trug rote Stiefel aus Amerika, die ständig riefen „nimm mich, nimm mich, wenn du dich traust!“ Natürlich lasen wir anderen auch, sogar wesentlich bessere Texte als Wolf. Und ich brachte immer auch auf der Violine, trauernde, ironisch schluchzende Musik, und nie lachte jemand über uns andere, denn jeder von uns hatte, das kann ich heute mit dem Abstand der Jahre sagen, wohl mehr Begabung als Wolf – ich sogar eine Doppelbegabung! Und nichts von ihm wurde je veröffentlicht – außer vielleicht ein, zwei kurze Texte, wenn es hoch kommt.

Während ich also konsequent zur Konzertreife auf der Violine strebte – quälte uns Wolf mit seinen Texten, solange, bis Marisa lachte. Ganz kurz. Das war das Fallbeil. Danach keine Lesung mehr.

Zwei Jahrzehnte lang warteten wir auf den großen „Wurf“, auf den Roman, den Wolf immer wieder andeutete, zwei Jahrzehnte hindurch galt er vielen als verhinderter Schriftsteller, während er als Biochemiker reussierte, promovierte, publizierte. Aber es war, so sagte er, nicht „das, was er eigentlich wollte“, um das es ihm einzig und allein ging: das Schreiben.

Und deshalb immer wieder seine Schreibdrohung, ähnlich wie meine Violin-Drohung. Denn seit dem Bruch des Handgelenks bin auch ich nur noch Dilettant. Es klingt einfach nicht mehr – zu langsam die Läufe, zu schwerfällig die Tremoli.
Niemand, sagt Wolf, könne schreiben wie er, wenn er nur wollte – Handke ein Kleinkunstkeramiker, Grass? Ein Langweiler und Thomas Bernhard eine gottlose Gebetsmühle, alles warte auf ihn, Wolf, nur er habe das Zeug. „Hätte ich nicht dieses Labor, das mich auffrisst, wäre mein großer Jahrhundert-Entwurf kein Problem.“

Ich spielte nach dem Lacher von Marisa noch ein bis zwei Jahre, oder Moment mal, ich glaube es waren genau viereinhalb Jahre die Violine. Unsere alten Texte waren längst vergessen, und ich galt als Violin-Entdeckung, sollte Nachfolger dieser berühmten Russen oder Amerikaner werden, oder auch dieser Japanerin – vor allem die Frauen waren es ja, die auf der Geige so gierig auftrumpften. Manchmal dachte ich, gegen diese Frauen hast du keine Chance, die Frauen haben es viel leichter, sich total für das zu entscheiden, was sie lieben. Ich schrieb nichts mehr, dafür stand ich mit der Violine vor dem Durchbruch, hatte schon erste Feuilleton-Kritiken, schnupperte die Tournee-Welt, Plattenverträge, das volle Leben, als diese Geschichte mit der Motorhaube passierte, die nicht richtig eingerastet war in Wolfs Wagen, und er kurz anfuhr.

Wir hatten uns länger nicht gesehen seit Marisas Lacher. In irgendeinem Spätherbst rief er an und fragte, ob wir nicht eine kleine Tour in den Süden machen wollten, sein neues Cabrio vorführen und außerdem eine neue Flamme, sie würde mir übrigens bekannt vorkommen. Natürlich war es dann Marisa, die inzwischen andere Schuhe trug.

Es war der Tag, nachdem ich mich für die Meisterklasse von Yehudi angemeldet hatte. Mitten in den Bergen, wir fuhren vom Brenner abwärts über Nebenstrecken, dann diesen Jaufenpass hinauf, Marisa auf dem Rücksitz mit wehendem Haar, offenes Verdeck alles lief perfekt, es konnte gar nicht besser sein. Als es wieder hinunter ging, starb der Motor. Ich öffnete die schwere Haube und legte den Metallstab ein, um sie zu sichern, der Wagen ruckte, das Handgelenk. Wenigstens lachte niemand.

Die ganze Sache ist inzwischen vergessen. Ich erwähne sie nur, weil wir, Wolf und ich, heute Abend wieder nach Rom fahren wollen. Wir treffen uns am Zug um 23 Uhr 15. Wolf hat, diesmal schon vorweg, angekündigt, mir auf der Fahrt einen tollen neuen Text vorzulesen, ich habe mit der Violine gedroht, die ich nicht mehr besitze. Am Telefon hat er übrigens behauptet, sie habe damals nicht über seinen Text gelacht, Marisa. Sondern über mein Violinspiel, aber das ist undenkbar, das ist absolut undenkbar, habe ich sofort geantwortet und laut gelacht.
Wolfram Hirche

Gekürzter Co-Gewinn-Text des Haidhauser Werkstattpreises 2015