Thomas Langs Roman über eine eigensinnige Künstlernatur

Immer nach Hause zieht es den jungen Hermann Hesse, er mag so oft weggehen, wie er will. Aber was ist die Bestimmung? Das scheint die Essenz des Buchs zu sein, das der Münchner Autor Thomas Lang über einen weniger bekannten Abschnitt aus dem Leben eines unserer meist gelesenen, 1946 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Dich-ters geschrieben hat. Der Bachmannpreisträger des Jahres 2005 begibt sich in seinem fünften Roman auf dünnes Eis. Denn das Hesse-Bild, das Millionen von Leser in sich tragen, das in mehreren Biografien, auf vielen Fotografien – unverkennbar die hagere Gestalt mit Strohhut und Nickelbrille – dokumentiert ist, aber vor allem seinen Büchern innewohnt, interpretiert er hier auf ganz eigene Weise. Für den Titel ließ sich Lang von Novalis inspirieren. Der lässt seinen Protagonisten Heinrich von Ofterdingen, also einen, der beständig auf der Suche ist, fragen: Wo gehn wir denn hin? Und das Mädchen antwortet: Immer nach Hause.

In seinem Text stützt sich Lang auf umfangreiche Recherchen, bei dem langjährigen Hesse-Herausgeber Volker Michels etwa, der Enkelin Sibylle Siegenthaler-Hesse und anderen intimen Kennern dieser frühen Lebensphase des Dichters. Als Einleitung dienen etliche Briefzitate, in denen Hesse seine Absicht bekundet, die neun Jahre ältere Maria Bernoulli zu heiraten. Als das Paar 1907 nach Gaienhofen zieht, einem winzigen Dorf auf der deutschen Seite des Bodensees, ist er Ende Zwanzig und durch einige Romane und Gedichtbände schon zu Ruhm gekommen. Mia indes, Schweizerin, emanzipiert, lässt ein erfolgreiches Berufsleben als Fotografin mit eigenem Fotoatelier in Basel hinter sich, wird auf das harte Leben einer Bäuerin reduziert und muss sich mit den Launen, Missstimmungen und depressiven Anfällen ihres Mannes herumschlagen. Beide wollen Kinder, bekommen drei Söhne, die der nervöse und sich in seiner Arbeit gestört fühlende Hesse aber schnell seiner Frau überlässt.

Immer wieder geht er auf Reisen. Angezogen von der erotischen Ausstrahlung Mias, gleichzeitig abgestoßen von den Mühen eines Ehelebens, gerät Hesse in eine Schaf-fenskrise, die er glaubt, mit seinen „Fluchten“ überwinden zu können. Eine davon führt ihn auf den Monte Verità, wo sich vor dem Ersten Weltkrieg ein Natursanatorium etabliert hat, ein magischer Anziehungspunkt für alle, die sich den Zwängen der Vorkriegs-gesellschaft entziehen und ein freies Leben führen wollen. Hesse findet Gefallen an den Menschen, die ihm dort begegnen, dem Eremiten Gusto Gräser etwa oder dem Naturarzt Arnold Ehret. Das natürliche Leben, das gesunde Essen, die Gespräche, die ihn aus seinem gewohnten Trott holen, tun ihm gut, kurieren seine Magenbeschwerden. Währenddessen schlägt Mia sich mit dem Bau ihres Hauses herum, der Erziehung der Kinder, ist frustriert, eingeschränkt, überbeansprucht, reagiert mit Rückenbeschwerden, woraus sich später eine schwere psychische Krise entwickelt. Selbst als das Paar nach achtjährigem Landleben in ein bequemeres Haus nach Bern zieht, gelingt es Hesse nicht, sich in sein Ehemann- und Vaterdasein zu fügen.

Lang hat keine Biografie geschrieben, er mischt Fakten und Fiktion, wendet sich vor allem dem Innen- und Seelenleben der beiden Hesses zu. Man mag ihm dabei folgen oder nicht, doch der Blick in eine empfindsame, an sich selbst zweifelnde, zwischen widerstrebenden Gefühlen schwankende Künstlernatur, den er imaginiert, ist berührend, erhellend, auch befremdlich. Die fiktive Beschreibung von Gefühlen, Gedanken, Gesprächen, Handlungen bergen eine stille Wahrhaftigkeit, die Möglichkeit, sich in das, was einen Künstler ausmacht, besser hineinzudenken.
Katrina Behrend Lesch

Thomas Lang
Immer nach Hause
Roman, 384 Seiten,
berlinVerlag, Berlin 2016,
20 Euro