Das lang ersehnte W-Fest vorüber, die Wohnzimmerteppiche noch übersät mit Geschenken, buntem Papier, Schnipseln und Scheren, blickt das magere Sein blass auf das wohlgenährte, anschwellende Haben. Im Konsumptiven alles in Ordnung! – Was wird das hier? Ein Hirtenbrief des asketischen Franziskus aus Rom? „Böser Konsumrausch“? Ach was, es gibt Schlimmeres. Den JRS zum Beispiel, den Jahresrückblicksschmerz! Was mussten wir im abgelaufenen Jahr an Schmerz ertragen, allein im Literarischen, und das alles wurde in den Medien zum Jahresende wie üblich nochmal in Rückblicken aufgetischt: Der Tod Umberto Ecos, die perfide Lüftung des Bestseller-Pseudonyms „Elena Ferrante“(„Meine geniale Freundin“), der Literatur-Nobelpreis für einen Mundharmonika spielenden Melancholiker oder auch die Verleihung des Deutschen Buchpreises für ein Werk Bodo Kirchhoffs („Widerfahrnis“), das an parfümiertem Altherren-Eros kaum zu übertreffen ist – der JRS wird uns noch eine ganze Weile verfolgen, auch wenn die Rückblicke selbst jetzt enden; die Druckstellen bleiben.

Vor allem die internationale Politik macht uns weiter Sorgen (neuerdings sagen viele auch seltsam sprachwandlerisch „besorgt uns“): Angelina und Brad im Rosenkrieg – was hatten wir nicht für Hoffnungen in sie gesetzt! Die Zika-Mücken von Rio bei den Doping-Spielen, die Seuchen-Wahl in den USA, wer weiß, was da noch ausgebrütet wird! Der Brexit mit seinem versöhnlichen Fazit: England geht, seine Sprache bleibt! Oder wie, bitte schön sollten sich Italiener, Bayern, Friesen und beispielsweise Tschechen sonst miteinander unterhalten? Auch die Münchner S-Bahn erprobt seit Jahren immer neue Englisch-Ansagen, die uns Mut machen. So wurde das nautische „disembark“ und das vielbeschmunzelte „Alight on the right hand side“ ersetzt durch das britisch-knappe „please exit on the right“. Die „da oben“ lernen also dazu, auch wenn sie das trockene „mind the gap“ der Londoner Tube niemals erreichen werden.

Der Spalt, jeder hat Angst davor, egal wo er auftaucht. Dabei ist eine tragische Nachricht nahezu unbemerkt in das JRS-Konzert gesickert: Die Milliardäre werden ärmer! Kein Internet-Fake: Das Durchschnittsvermögen des gesunden Durchschnittsmilliardärs auf dem Globus ist von 4,0 auf 3,7 Milliarden US-Dollar gesunken. Ermittelt von der, nun ja, semiseriösen Schweizer Bank UBS. Andere Quellen melden, dass der Mittelstand in einigen Schwellenländern reicher geworden ist auf Kosten der wohlhabenden Industrieländer! – Globalisierung!

Dabei hatten wir uns so an die Idee gewöhnt, dass die berüchtigte Schere zwischen Arm und Reich sich immer mehr öffnet, dieser Spalt, er soll sich jetzt langsam schließen? Das, o Schmerz, geht auf unsere Kosten! Wir werden ein neues Bild malen müssen. Apropos Schere: besser, wir suchen sie jetzt mal schnell unter dem Weihnachtsgeschenkeberg!
W.H.