Kunstwerke aus Papier und Pappe

Hubert Kretschmer reist um die halbe Welt auf der Suche nach Künstlerbüchern

Ein Buch ist ein Buch. Die Leserinnen und Leser der LiteraturSeiten werden da sofort zustimmen können. Doch manchmal ist ein Buch eben doch nicht nur ein Buch, sondern mehr als reines Schriftgut. Genau dieser Dimension widmet sich Hubert Kretschmer. Er sammelt Künstlerbücher, die jedes Mal ganz neu und jedes auf seine eigene Weise vom Leser gelesen werden wollen. Und er sammelt allerlei Medien, die in kleinen Auflagen das Licht der Welt erblicken: Flugblätter, Zines (Publikationen), Multiples, Plakate, Zeitschriften… In einem Archiv stellt er seine Sammlung der Öffentlichkeit zur Verfügung.

„Sieg“ heißt das Werk, das Hubert Kretschmer immer wieder gern in die Hand nimmt. Es kommt recht unprätentiös und ein wenig unfertig daher. Es besteht aus Pappe und sieht aus wie der Einband eines Buches. Doch es fehlen die Seiten. Keinesfalls aber fehlt es an einer Geschichte. Eine gemalte Faust erzählt sie, auf den vier Seiten des „Einbands“. Denn die Faust, die Christoph Mauler 1991 in fein abgestimmten Grautönen auf schwarze Pappe bannte, sieht auf jeder Seite anders aus und führt das Symbol in seiner bekannten Bedeutung ad absurdum. Die Faust ist nicht heil, der Sieg ist hinterfragt.

Die Werke, die Hubert Kretschmer in seinem Untergeschoss in der Türkenstraße sammelt, sind keine „normalen“ Bücher. Sie fordern mehr als nur Kenntnisse des Alphabets. Sie wollen verstanden werden in ihrer Gesamtheit aus Zeichen, Materialien, Farben und Formen. Wer die Voraussetzungen dieser Art von Schriftgut verstehen will, kann ein ganz normales Buch zur Hand nehmen. Es ist Kretschmers Lieblingsbuch, eine Art Manifest mit dem Titel „Second Thoughts“, das der Mexikaner Ulises Carrión 1980 herausgebracht hat. Es handele sich, sagt Kretschmer, um das wichtigste Buch über Künstlerbücher, es definiere Bücher als „eine Folge von Räumen“.

Gelesen hat Kretschmer schon als Kind gern und viel. Und immer hat er parallel auch selber kleine Heftchen gestaltet, Malbücher gebastelt, Comics gesammelt und Blätter gebündelt. Er wollte die Dinge zusammenhalten. Seine frühen Vorlieben mündeten einerseits in den Beruf des Kunstpädagogen, andererseits in diverse Aktivitäten als Verleger, Sammler und Künstler. Aus „schlechten“ Fotos macht er Bilder, die die Erwartungen des Betrachtenden unterlaufen. Mit seiner Sammlung trat er 1979 an die Öffentlichkeit, im Rahmen von drei Ausstellungen über Künstlerbücher 1979 in der Produzentengalerie in der Adelgundenstraße. Es folgte die Gründung von Verlag & Distribution Hubert Kretschmer. Der Alltag des Sammlers bestand aus Besuchen von Kunstmessen in ganz Europa und bis nach Amerika. Heute schicken ihm die Autoren von künstlerischen Druckerzeugnissen ihre Werke oft ungefragt und kistenweise zu. Die Liebe zu Reisen in Ateliers, Galerien, Buchhandlungen in den Hauptstädten der Welt ist geblieben. Schließlich gilt es, am Netzwerk zu spinnen für Künstler, die alles, was aus Papier oder Pappe ist, gestalten zu kleinen Kunstwerken, zu Werbemitteln in eigener Sache.

In den 70ern und 80ern erlebte diese Art von Publikationen eine Art Hoch-Zeit, in den 90ern entzog das Internet diesem Medium kurzzeitig die Basis, inzwischen, seit etwa 2005, gibt es ein Revival. Die jungen Leute, erzählt Kretschmer, verlangt es wieder nach Sachen, die man in die Hand nehmen kann. Das Ergebnis sind neben Künstlerbüchern Zeitschriften, Flugblätter, Zines, Multiples, Plakate und andere Medien. Kretschmer sammelt und archiviert  sie. Entstanden ist so ein Archiv aus 400 Kartons und 60 Bananenkisten, in denen die Sammelobjekte fein geordnet lagern. Das Online-Archiv  www.archive-artist-publications.eu bietet den Buchkünstlern eine internationale Plattform und dokumentiert ganz nebenbei, aber durchaus mit Absicht, den Zeitgeist und seine Entwicklung. Denn die Druckerzeugnisse stellen Werbemittel der Künstler in eigener Sache dar und spiegeln so die Kunstströmungen der vergangenen drei Jahrzehnte.
Ursula Sautmann