Die Sonne zieht letzte Lichtschleppen über den Horizont. Der Asphalt ermattet und gerät ins Visier herandunkelnder Wälder. Übergriffiges Schwarz rückt Baumstamm um Baumstamm vor. Die Mittellinie bringt sich in Stellung. Ich muss nach Vrbovsko.

Aufwärts. Riesige Nachtschattengewächse beschweigen den Husten, der mich seit Tagen begleitet. Ertretenes Gefunzel vor der Gabel. Steige ich ab, frisst mich das bodenlose Dunkel des kroatisch-slowenischen Grenzgebiets. Ich muss nach Vrbovsko.

In Passau übernachtete ich bei meiner Mutter. In Linz speiste ich in Urfahr. In Wien schwamm ich in der Donau. In Ungarn fuhr ich an wogenden Gänsefeldern vorbei. In Budapest bröckelte der Ostblock. Sommer 1989 und ich muss nach Vrbovsko. 

Man sagte mir in dem Städtchen, das ich vor einer halben Stunde durchfahren habe, dass es in Vrbovsko ein Motel gebe. Also.

Ich bin alleine. Niemand überholt mich, niemand kommt mir entgegen. Es gibt keine Häuser, es gibt keine Lichter.

Aufwärts in die Schwärze. Die Speicher sind seit Stunden leer und ich suche die letzten Körner. Aufwärts, ihr Beine, ihr Kniee, ihr Füße, ihr Hände, aufwärts, du Arsch! Aufwärts, Bauch, Brust, Rücken, Hals, Kopf! Aufwärts, o Herz, aufwärts, aufwärts!

Mein Adler hackt nach allem, was dräuen könnte. Aber er hackt blind, denn das Schwarz, es ist wie Luft.

Das Gute ist der schwankende Kegel Helle vor meinem Rad. Wenn ich ihm treulich folge, komme ich nach Vrbovsko.

Die Zeit schlage ich mir aus dem Kopf. So lange wird getreten, bis die Zeit gekommen sein wird. Überlass das Denken den Pferden!

In der Ferne ein Wetterleuchten. Bleib! Dort!

Vrbovsko will und will nicht kommen. Also muss ich wollen, weiterwollen. Das Wollen ist meine Stärke, es ist mein Pfund, mit dem ich wuchern kann, es ist das Pfund, mit dem ich diese uferlose Nacht zuwuchern werde.

Mein Wille leuchtet wie eine unsichtbare Sonne, deren Strahlen zu fein sind für diese Welt.

Aufwärts, unablässig aufwärts in diesem Herrkotzwinkel von etwa acht Prozent. Hier ist ein Pass, von dessen Existenz ich nichts ahnte.

Wald, was geht in dir vor? Heute schweigst du, während meine Äste schier brechen.

Licht voraus! In einer Parkbucht steht ein Trabant. Ein Mann und eine Frau beugen sich über eine auf der Motorhaube liegende Straßenkarte. Sie taschenlämpelt.

Woherwohin? Das Paar kommt aus dem sozialistischen Deutschland und will über Ungarn und Jugoslawien in den Westen. Ich komme aus dem Westen und will über Ungarn und Jugoslawien nach Italien. Vor mir liegen Rijeka, Zadar, Ancona, Elba. Doch davor Vrbovsko.

Ich bin wieder allein. Aber: Wie wohl Menschen tun können! Eine Zeitlang geben die Beiden mir Schub.

Dann finde ich keine Körner mehr. Trotzdem.

Om mani padme hum! O, meine Pedale, rum! O, meine Pedale, rum! O, meine Pedale, rum!

Wie lange noch? Nein, abermals nein! Mach es wie die Bäume: Erst sind sie klein, dann sind sie groß.

Mein Adler schreckt auf. Hundegebell, da vorn!

Ein Hauch von Licht auf dem Asphalt. Eine Kurve deutet sich an.

Blitzschnell krallt sich der Adler meinen Hasen und fliegt voran.

Hinter der Kurve, fünfzig Meter weiter, steht im spitzen Eck zwischen der Pass- und einer nach links abzweigenden Straße eine Laterne. Genau gegenüber klebt rechterhand eine Kate am Hang. Sie wird bewacht von einem an der Kette reißenden und messerscharf bellenden Hund.

Mein Adler hackt dem Hund ins Auge, doch auf der linken Straßenseite blutet auch mein Herz.

Während der Hund mir das Gehör zerbellt, steige ich an der Laterne ab. Was tun? Rechts geht es aufwärts, links abwärts. Wo ist Vrbovsko? Wo das Motel?

Wild zappelt der Hase in den Fängen des Adlers; ich muss mich entscheiden.

Bergab.

Die Laterne erlischt, das Gebell verstummt, die Nacht schlägt zurück.

Nach einigen Kehren steht ein Haus da, dann noch eins. Die Fenster dunkel. Schließlich rolle ich auf den Dorfplatz von Vrbovsko. Einige Autos, Zierbäume, niemand da.

Aus einer offenen Tür bricht Licht. Musik. Ich trete ein.

Eine Bar mit drei, vier letzten Gästen. Für mich ist es eine Wunder-Bar. Die Zeit kehrt zurück, es ist kurz nach dreiundzwanzig Uhr.

„Wo ist das Motel?“

Ein Gast führt mich nach draußen. Er zeigt steil nach oben. Dort, weit über dem Dorf, hoch über dem Höllenhund, gleißt die Front des Motels gleich einem aufgeblähten Fixstern, Verheißung und Fluch in einem. Ich muss raus aus Vrbovsko.

Aber ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr wollen. Ich habe meinen Willen soeben an der Garderobe abgegeben, von wo er mir nicht mehr hergeht. Mein Wille ist jetzt ein Un-Wille. Schnauze voll.

Es gibt nur noch einen Ausweg: Angesichts der Unabdingbarkeit des Weiterfahrens füge ich mich in das mir auferlegte Schicksal und werde willfährig.

Ade, Bar! Verpiss dich, Hase! Komm schon, mein Adler!

An der Straßengabelung schreie ich im schimmligen Schein der Laterne dem Hund seine gebellten Schrapnelle in den Schlund zurück. Krepier!

Ich erreiche das Motel kurz vor
Torschluss.

Der Autor liest diese Geschichte am Montag, 15. Januar anlässlich der Präsentation der Zeitschrift „Am Erker“ um 19:30 Uhr in der Favorit Bar, Damenstiftstr. 12 persönlich vor.