von Philipp Stoll

In jenem heißen Sommer suchte ich vergeblich nach Schlaf. Nacht für Nacht wälzte ich mich von der einen auf die andere Seite, versuchte Bauch- und Rückenlage, hielt es nie mehr als ein paar Minuten aus, schleuderte das verschwitzte Laken von mir, um es kurz darauf in der Dunkelheit zu finden und schützend über mich zu breiten. Zwar gelang es mir, meine Augen zu schließen, indes blendete mich aus meinem Inneren heraus eine merkwürdige Helligkeit, so dass ich es vorzog, mit offenen Augen in der diffusen Dunkelheit meines Zimmers den Beginn eines Traumes zu erwarten, irgendeines. Tagsüber quälte ich mich völlig übermüdet durch eine buntschrille Welt, die laufend Entscheidungen verlangte, für die mir der Überblick fehlte. Nachts lag ich in meinem Bett, tat kein Auge zu und wälzte die unerledigten Entscheidungen. Dem Rat von Freunden folgend versuchte ich es mit körperlicher Anstrengung und unternahm trotz der unerträglichen Hitze ausgedehnte Spaziergänge. Auch verordnete ich mir einen täglichen Schwimmaufenthalt im nahegelegenen See, aber das Wasser war nahezu lauwarm und kühlte kaum. Schließlich riet man mir zu einem vorübergehenden Ortswechsel. 

In einem direkt am Strand gelegenen kleinen Hotel mietete ich ein Zimmer mit Balkon zum nahen Meer. Schon in der ersten Nacht erlag ich der Brandung. Ich lauschte dem Gurgeln und Plätschern, dem Geräusch, wenn die heranrollende Welle sich überschlägt, das Ufer ein Stück weit hinaufleckt, um schließlich gemeinsam mit den zurückrollenden Kieselsteinen der nächsten Welle Platz zu machen. Instinktiv begriff ich, dass es galt, dieses Geräusch fest in mir zu verankern und nicht mehr wegzugeben. Das Wasser kam und ging, um wieder zu kommen und zu gehen, genauso wie ich die Luft in mich hinein und wieder hinaus ließ. Würde dieses Rauschen enden, alles wäre zu Ende. In dem regelmäßigen und zugleich unregelmäßigen Wechsel von zischen, gluckern, raunen und rieseln von Wasser, Stein und Luft fühlte ich mich sicher und geborgen. Ich fiel in tiefen Schlaf.

In der nächsten Nacht bemerkte ich, kaum dass ich mich niedergelegt hatte, einen Duft, der durch das geöffnete Fenster hereinfloss,  das schwere, betörende  Parfüm einer Dame, die vermutlich vor dem Haus vorüberging. Ich konnte jedoch in der schwach beleuchteten Umgebung des Hotels niemanden sehen. Der Wohlgeruch blieb in meinem Zimmer und vermischte sich mit dem Meeresrauschen; erst gegen Morgen verschwand er. In der folgenden Nacht war er wieder da. Ich kleidete mich rasch an, verließ das Zimmer und stieg in die beleuchtete Eingangshalle hinunter, wo der Nachtportier in einem Korbsessel saß. Er hatte den Kopf an die hohe Lehne gelegt und sah durch das große Fenster hinaus in die schwarze Nacht, wo nichts zu sehen war. Vermutlich lauschte auch er der Brandung. Er sah so aus, als säße er schon seit vielen Jahren jede Nacht an derselben Stelle in demselben Stuhl. Ich wollte ihn nicht stören. Sonst war niemand zu sehen. Vor der Tür lag der Duft so kräftig in der Nacht, dass ich erschauerte. Gewiss war die Dame soeben erst vorüberspaziert. Auch das Rauschen des Meeres war deutlicher als in meinem Zimmer. Ich ging um das Haus herum, niemand war jedoch zu sehen.

Auch in den kommenden Nächten war an Schlafen nicht zu denken. Meine Neugier trieb mich so weit, dass ich nach dem Dinner in der Empfangshalle sitzen blieb, um das Erscheinen der Unbekannten nicht zu verpassen. Es waren zeitlose Stunden. Ich hatte keine Eile. Es gab nichts zu erledigen. Da saßen wir, der Nachtwächter und ich. Es hatte sich so ergeben, dass wir uns stets nur mit einem Kopfnicken begrüßten und sonst kein Wort miteinander sprachen. Die Unbekannte sah ich nicht. Ihr Duft breitete sich jedoch jede Nacht aus, so frisch wie beim ersten Mal. Ich sah auch sonst niemanden das Hotel betreten, es verlassen oder vor dem Haus vorüber gehen. Irgendwann, es mag nach einer Woche gewesen sein, überkam mich die Neugier, ich gab mir einen Ruck und sprach den Nachtwächter an, ob er wisse, wo die Unbekannte sich aufhalte. Langsam drehte er mir sein Gesicht zu. „Mein Lieber“, sagte er mit überraschend klarer Stimme, „Sie träumen, ja: Sie träumen.“ Mit ernstem Ausdruck wandte er sich wieder dem unsichtbaren Meer zu.

Von dieser rätselhaften Antwort verwirrt begab ich mich in mein Zimmer und legte mich nieder. Was meinte dieser Mensch? Ich krallte beide Hände in mein Gesicht. Der Schmerz beruhigte mich und in dem sehnsuchtsvollen und verführerischen Geruch, den die Brandung in meinem Zimmer leicht hin und her wogen ließ, schlief ich ein.

Nach einem tiefen erholsamen Schlaf erwachte ich, über Nacht hatte es etwas abgekühlt, der heiße Sommer ging zu Ende. Im Spiegel sah ich die Spuren meiner Hände auf beiden Wangen. An meine Heimreise aber habe ich keine Erinnerung. Auch der Name des Ortes, an dem ich mich befunden hatte, und der jenes Hotels sind aus meinem Gedächtnis verschwunden, und seit geraumer Zeit zweifle ich, jemals dort gewesen zu sein.