Von Bernd Zabel

Eine vielzitierte Nahtoderfahrung besagt, dass im Moment des Hinscheidens noch einmal das gesamte Leben vorbeizieht. Lavinia, die Protagonistin in Dagmar Leupolds gleichnamigem Buch, erfährt so etwas. Ein Fall, ein Sturz aus dem 25. Stock eines Hochhauses am Hudson in New York dauert nur Sekunden, die erzählte Zeit dehnt sich aber auf fast 200 Seiten aus. Ungewöhnlich ist nur der Richtungswechsel. Es geht nicht hinab, es geht herab zum Anfang, zum Ursprung. Das Wortfeld „fallen“ wird durchdekliniert, eine Biografie aus Zu-, Zwischen- und Unfällen. In der Hauptrolle die Geschichte der Liebe, überhöht als Minne, denunziert als Übergriffigkeit und Gewalterfahrung. Bei Eins ist die Autorin, Jahrgang 1955, definitiv bei der aktuellen #me too – Bewegung angekommen. Da lässt sie Lavinia zum Rundumschlag ausholen. All die Begrapscher, Zurauner und Vergewaltiger werden benannt. Erniedrigungen, die über Jahrzehnte erduldet wurden, aufgeschrieben. Auch sie ist jetzt eine andere, nicht mehr die antike L., Frau des Äneas bei Vergil, eher die gequälte L. aus Shakespeares „Titus Andronicus“. Vom Furor getrieben, rechnet sie ab. Mäßigt sich dann zum Ende hin, es gab auch gute Zeiten, Anflüge einer großen Liebe, die Dinge sind nicht einfach schwarz-weiß, sie sind gemischt, oder in ihren Worten: „dolceamaro“, bittersüß.

Neben mittelhochdeutschen Minneworten und Kindheitserzählungen sind es viele tagesaktuelle Phrasen, Kalauer und Nachrichtenfetzen, die in diesen tagebuchartigen Aufzeichnungen zitiert werden: „Der Obernarr mit Haartolle schreitet fahnenschwenkend voran, me first, an der Hüfte ein fettes Holster, ihm folgen der Magyar, der Tigerbezwinger mit entblößter Brust, der dicke Sohn mit Pausbacken und Undercut…“. Phasenweise stellt sich der Eindruck von Disparatheit ein, aber dann gelingen auch immer wieder eindringliche Bilder aus der Kindheit, vom geliebten Omale, später vom jüdischen Ehepaar Stern. Keine leichte, aber eine lohnende Lektüre.

Dagmar Leupold
Lavinia
208 Seiten, gebunden
Jung & Jung, Salzburg 2019
21 Euro