Tukan-Preis geht an Dagmar Leupold für ihren Roman „Unter der Hand“

Vor rauen Nord- und Westwinden gut geschützt – so rühmt sich Schwarzort, ein kleines Fischerdorf an der Kurischen Nehrung. Dorthin zieht sich Minna zurück, die Ich-Erzählerin des Romans „Unter der Hand“ von Dagmar Leupold. Hier endet das Märchen einer 50jährigen ledigen Frau, die in München von Nachhilfestunden und Korrekturlesen lebt und der ein Mäzen zu spätem Glück verhilft. Spätes Glück – denn Minna kam als Frühchen ohne menschliche Wärme zur Welt, ist liebeshungrig und schmiedet sich eine Ersatzfamilie in einer fragilen Welt. „Unter der Hand“ erhielt im Dezember den Tukan-Preis 2013, der jährlich eine belletristische Münchner Neuerscheinung auszeichnet, die – so die Ausschreibung – „sprachlich, formal und inhaltlich herausragend“ ist. Dagmar Leupold ist eine würdige Preisträgerin.

Der Roman hat eine knappe Rahmenhandlung, in die die eigentliche Geschichte mit dem Titel „Schwarzarbeit: Ein Märchen“ eingebettet ist. Doppelbödigkeiten wie Schwarzarbeit durchziehen das ganze Werk von Dagmar Leupold, da gibt es Schwarzort, Schwarzfahrten, Schwarzgeld und Schwarzgalligkeit, die gut zu den dunklen Gedanken von Minna passen. Allerdings soll sie keine Pechmarie bleiben, sondern eine Goldmarie werden: Sie erhält Geld von ihrem Mäzen Vico, der sie zur Glücksmissionarin, zur Märchenschreiberin machen will. Minna tritt denn auch schnell in das Leben von vier Menschen ein. Das sind die Nachhilfeschüler Parwiz und Anja, der frühpensionierte Lehrer Heinrich, mit dem sich eine glückliche Beziehung anbahnt, und Lotte, die 81jährige Ostpreußin. Die alte Dame nimmt Minna in Beschlag: Sie gehen ins Museum, misten Kleider aus, jagen einen Versicherungsvertreter zum Teufel oder unternehmen – zu viert als Patchworkfamilie – Ausflüge, kochen und essen gemeinsam. Als die Ostpreußin stirbt, wird sie eingeäschert, ihre Asche streuen Minna und Heinrich in die Ostsee – bei Schwarzort an der Kurischen Nehrung. Back to the roots.

Soweit das Märchen, das Bilderbuch, das Auftragswerk. Es steht im Kontrast zur Lebenswirklichkeit der Ich-Erzählerin: Sie muss von Gelegenheitsjobs leben, giert frierend nach menschlicher Wärme, ist suizidgefährdet, taucht ab in Melancholie, die dem Leser szenische Miniaturen und Beobachtungen großer Finesse und Behutsamkeit beschert. Minna erzählt und lebt eine prekäre
Existenz in einem selbstgefälligen München, ein kärgliches Schriftstellerdasein in einem
Elfenbeinturm, eine Glückssuche in einer kalten Gesellschaft. Dabei müsste es dieser Nachkriegsgeneration doch so schlecht gar nicht gehen: „Wir konnten die noch warmen Laken und Kissen der 68er weiter beschlafen, ohne die Betten bauen zu müssen“. Die Vorkämpfer in den späten 60er Jahren waren forsche, politische Köpfe – die mutlosen Nutznießer des frühen 21. Jahrhunderts sind Mängelexemplare, belegen nur Anfängerkurse. So urteilt die Tukan-Jury denn auch über den Leupold-Roman: „Diese Minna ist die exemplarische Repräsentantin einer Generation, für die Freiheit und Emanzipation zur leeren Beliebigkeit geworden ist und sich selbst als parasitär empfindet“. Dagmar Leupold hat einmal gesagt. „Ich glaube an die Zeitgenossenschaft“. Minna ist Zeitgenossin und Märchenfigur zugleich. Der Roman „Unter der Hand“ ist somit ein Märchen und unter der Hand ein literarisches Zeitdokument. Unbedingt lesen!
Ina Kuegler