Der Autor, Regisseur und Theatermann Emre Akal

Von Katrin Diehl

Für Emre Akal war 2020 ein gutes Jahr. Zwei Preise hat er entgegennehmen dürfen. Im Sommer den „Förderpreis für Theater der Stadt München“, eine Auszeichnung, die vor allem Akals Arbeit als Regisseur galt und die auf städtisches Interesse an einer innovativen, klugen wie Grenzen sprengenden „Freien Szene“ schließen und hoffen lässt. Dann – Ende des Jahres – kam noch der „exil-DramatikerInnenpreis 2020“ hinzu, vergeben von den „WIENER WORTSTAETTEN“, dem „Schauspiel Leipzig“ und der Wiener „edition exil“, und der ehrte den „Stückeschreiber“ Emre Akal, prämierte dessen Stück mit dem verführerischen Titel „Hotel Pink Lulu – Die Ersatzwelt“.

2020 war für Emre Akal auch ein gutes Jahr wegen Corona. Nicht wirklich wegen Corona, sondern wegen der „Zeit“, die Corona gab. „Grade beim ersten Lockdown, wo alles plötzlich wirklich stehen geblieben ist …, hatte ich massiv das Gefühl, dass sich die Zeit meiner Zeitlichkeit angepasst hat.“ Akals Zeit ist die langsame Zeit. „Denn ich bin einfach ein langsamer Mensch in allen Prozessen sozusagen, auch auf meinem Weg, den ich gehe. Dadurch habe ich eine wahnsinnige Freiheit erlebt.“ „Langsam“ ließe sich in Akals Fall – das weiß man nach einem Gespräch mit ihm – durch „besonnen“, „überlegt“ ersetzen. Aus dem gewonnenen Freiheitsgefühl heraus bestimmte Akal für sich, „nur noch so zu schreiben, wie ich das möchte“. Das klingt nach totalem Luxus. Einem Luxus, den sich erlauben darf, wer weiß, was er an sich hat.

„Hotel Pink Lulu“, in der Lockdown-Zeit entstanden, ist der erste Teil einer „Quadrologie“, in der es „um die Menschheit im Angesicht unserer Gegenwart und Zukunft“ geht. In dem Stück landen Menschen durch eine „staatliche Überbrückungsmaßnahme“ in einem digitalen, virtuellen Hotel, hoffen dort, ihre Träume und Sehnsüchte leben zu können. Gleichzeitig spielen gewisse Privilegien eine Rolle: „Wer ist privilegiert genug, um dies oder das leben zu können?“ Sich nah an ganz unterschiedliche Menschen heranschreiben zu können, sie zu wissen, zu fühlen, verlangt nach der Fähigkeit des Perspektivwechsels. Davor steht immer die Frage nach der eigenen Biografie.

„Ich speise mich extrem aus allen Eindrücken meines Lebens, und dabei geht es natürlich nicht nur um Dinge, die ich selbst erlebt habe, es reicht, sie beobachtet zu haben“, sagt Emre Akal. Und dass er schon immer ein beobachtender Mensch sei, „seit ich denken kann.“

Geboren wurde Akal in München. Seine Eltern hatten die Türkei verlassen, „ein Land, zu dem ich einen großen Bezug habe, weshalb ich mich vor ein paar Jahren auch bewusst entschieden hatte, für einige Zeit dort zu leben, in Istanbul Theater zu machen“. Was die Beziehung zu diesem Land noch stärker und besonders macht, ist, dass Akal „das Glück hat“, aus einer Künstlerfamilie zu stammen. „Mein Vater war Schauspieler an einem Staatstheater in der Türkei, hat später linkspolitisches Theater gemacht, mein Großvater war Kunstmaler und mein Urgroßvater Schriftsteller“. Akal nennt das „Kulturenergie“, die ihm da mitgegeben wurde und nicht nur ihm, sondern auch seinem Zwillingsbruder, auch seinem Cousin, die als Kollektiv „Mehmet und Kazim“ ebenfalls in München Kunst machen. „Wir haben uns das Recht auf Kunst zurückgeholt“, sagt Akal, und dass das von der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft so eigentlich nicht vorgesehen gewesen sei. Bringt er „fremde“ Perspektiven in seine Texte, auf die Bühne, dann ist das auch als vorbeugende Maßnahme zu verstehen, die verhindert, auf die eigene Biografie begrenzt zu werden. Und wieder geht es ums genaue Beobachten, ums aufwendige Recherchieren, „fast wie ein Forscher, fast wie ein Journalist“. Was dann am Ende herauskomme, sei dennoch nie dokumentarisch, sondern „eine komplette Abstraktion, manchmal reine Emotion“. „Mit großer Lust auf Ästhetik“ entstehen dabei auf der Bühne häufig so etwas wie „Bilder“. „Seine Arbeiten bewegen sich an der Schnittstelle von Performance, Choreografie, Installation und Bildkomposition“, zu sehen waren sie „in Istanbul, den Münchner Kammerspielen, im Maxim Gorki Theater, der Freien Szene München, Stuttgart, Wien …“ heißt es über Akal auf dessen Website. Dort findet man auch einen Ausschnitt aus „Mutterland …stille“, einem wortlosen Stück von 2017, in dem es eine Szene gibt, in der eine Frau eine andere mit Schokolade füttert. Die nichtendende Prozedur gipfelt in brutalster Übergriffigkeit. Ein Mensch wird vollgestopft. „Da sind öfter Zuschauer*innen raus gegangen, auch weil in die Künstlichkeit dieses Stückes plötzlich eine Realitätsebene eingezogen ist …“, erinnert sich Emre Akal.

Die Tage schreibt er weiter in seiner geschenkten Zeit. Weiter an seiner „Quadrologie“. Es wird um Bäume gehen. Um komplexe Kommunikation, die die menschliche Wahrnehmung bei weitem übersteigt, am Ende um die banale wie schwerwiegende Tatsache, dass „der Mensch nicht mehr sehen kann, als das, was er sieht“.