Als sich am 2. Januar der erste Schnee über die Stadt legte, wussten wir nicht, wird das jetzt plötzlich Sibirien hier, bleibt das so bei minus 17 bis minus 20 Grad bei Nacht, dieses Tief „Alex“, und der Schnee, legt der Himmel da noch was drauf, fällt er weiter oder war’s das schon? Sofort kommt uns Potaschnikow in den Sinn, der den Frost auch ohne Thermometer bestimmen konnte: Bei Frostnebel hat es 40 minus, wenn die Luft mit einem Geräusch ausfährt, sind es 45, und wenn noch Kurzatmigkeit dazukommt minus 50. Wenn es noch kälter ist, gefriert die Spucke in der Luft. Und wenn es dann wieder auf 40 oder gar minus 30 Grad zurückgeht, dann ist es für zwei Tage richtig warm, wusste Potaschnikow. Und so ist es auch bei uns gekommen: 0 Grad – wunderbar warm!

Potaschnikow? Na schön, muss man nicht unbedingt kennen, den Burschen, einer von Warlam Schalamows Helden im ostsibirischen Straflager Kolyma.
Sicher längst erfroren, wenn es ihn denn gab. Schalamow ist jener russische Autor, über den Solschenizyn sagte, er sei der wahre Autor des Lager-Leidens, der Schreckenskorrespondent des Gulag, er musste nichts erfinden, er lebte jahrelang unter der Knute von Hunger, Kälte und Schikanen stalinistischer Lagerhaft.

Anders Clemens Forell. Das war der Held von „SdFt“, einer sechsteiligen Sibirien-Soap aus den späten 1950-er Jahren, die aus dem Roman von J. M. Bauer herausgeschält wurde: „So weit die Füße tragen“. Schwarz-weiß-TV, ziemlich neu damals, eine tolle, aufregende Sache! Forell stand natürlich – bei allem Hunger, aller Kälte – immer gut im Fleisch, schlug sich erfolgreich durch gegen Wärter, Wölfe und Verräter und landete glücklich in Deutschland. Bauer hatte die Story von einem „Spätheimkehrer“, und als Jahre später Journalisten (die schon wieder!) recherchierten, stellte sich heraus, dass der Informant die Geschichte so gar nicht erlebt haben konnte, sie musste erfunden sein – na schön, aber gut erfunden! – Und gab es nicht auch eine kleine Liebesromanze? Die Spucke mag ja gefrieren aber die Liebe nie. (Haben uns übrigens die Nachkriegslehrer, wenn sie mal „den Krieg“ auspackten, nicht sogar vom Urin erzählt, der ihnen in Russland gefroren sei? Doch das ist hier völlig fehl am Platz, Lagerfeuererzählung, nicht zu echter Literatur gefroren!) Schalamow kommt ohne Eros aus, obwohl jeder Autor weiß, dass Eros die Leserzahlen hochschnellen lässt (daher auch hier die Überschrift). Und wenn moderne Autoren auf ihn verzichten, wie Thomas Bernhard, Peter Handke, müssen sie schon eine bestimmte Magie des Schreibens entwickeln, die den herkömmlichen Eros ersetzt.

Handke im Winterjournal („Das Gewicht der Welt“) von 1975 bis 77: „Älter werden, ohne dass die Zeit vergeht“. Und : „Snow, keep on falling“. Ja, der fallende Schnee, er hat was. Und nur die ganz hart Gefrorenen wollen völlig auf ihn verzichten.
WH.