Ich schaue extra nicht zu der Kiste mit den Schokoladentafeln. Aber ich sehe sie trotzdem. MILKA.
„Schau, was ich dir zusammengepackt habe!“, flüstert Helga und gibt mir die Tüte. Früher habe ich gedacht, sie hat einen Sprechfehler, aber Pap hat gesagt, es ist wegen der Schweiz, dass sie so komisch redet.
„Ist dein Papa noch immer krank?“
Es nervt, dass sie immer fragt. Ich würde selber viel lieber wieder mit Pap zusammen kommen. Es würde mir dann auch gar nichts ausmachen, wenn wir erst später mit den anderen rein dürften und wieder weniger kriegen würden. Gleich fragt sie, was Pap hat, und ich kann es ihr wieder nicht sagen, weil Pap immer nur da liegt und sagt: „Nix. Wird schon wieder.“
„Was hat er denn eigentlich genau, dein Papa?“
Vielleicht komme ich nächstes Mal lieber später und stelle mich in die Schlange. Helga schaut mich an, als ob sie mehr wissen würde als Pap und ich, aber das stimmt nicht. Vielleicht komme ich auch gar nicht mehr. Eier können wir uns selber kaufen, Mehl und Öl haben wir noch genug. Ich kann uns jeden Tag Pfannkuchen machen. Ich mag Pfannkuchen auch ohne Apfelmus. Ich schaue extra auf die Milka-Tafeln.

„Magst du eine?“, fragt Helga, aber ich gebe keine Antwort. Auf einmal mag ich keine Schokolade mehr. Ich mag gar nichts. Ich will, dass Pap gesund ist und endlich Arbeit findet.
„Bist traurig, hm?“
Helga hat es schneller gemerkt als ich. Ich muss abwechselnd schnaufen und Spucke schlucken. Sie hört einfach nicht auf, mich anzuschauen.
„Magst einen Kakao?“, fragt sie. „Komm!“

Der Kakao schmeckt süß und warm, und ich bin froh, dass ich ihn habe, weil ich was zu tun habe: Pusten, trinken, ein kleiner Schluck, die Tasse vorsichtig festhalten und mich nicht verbrennen. So kann ich Helgas Augen nur spüren.
„Du hast Angst um deinen Papa, gell?“
Sie tut einen Haarfaden auf die Seite, aber er fällt gleich wieder zurück auf ihre Backe. Ihre Haare sind schon grau. Wo holen wir unser Essen, wenn Helga gestorben ist?
„Ist bestimmt blöd für dich, hm? Musst jetzt Vieles allein machen.“
Sie sagt es nett, aber sie tut nur so.
„Wir brauchen Ihr blödes Essen nicht!“, würde ich gern schreien.
„Ich muss mal“, sage ich aber bloß und stelle die Tasse hin.

Als ich zurück komme, sitzt Helga immer noch da. Sie schaut mich an und wartet. Dann heule ich. Ich will wieder aufhören, schlucke runter. Aber es ist zu spät. Ich verschlucke mich am Rotz und huste. Helga gibt mir ein Taschentuch, aber die Tränen und der Rotz weichen es durch, und ich brauche noch eins. Und dann noch eins.
Helgas dicke Hand liegt auf meiner. Meine Hand ist keine anderen Hände gewöhnt. Ein komisches Gefühl, weich, warm. Jetzt könnte ich was sagen. Ich könnte ihr erzählen, dass Pap den ganzen Tag im Wohnzimmer liegt. Nur die Nachrichtenleute und Köche und Liebespaare im Fernseher sind immer unterschiedlich. Helgas Hand ist immer noch da.
Es klingelt. Zwei Uhr. Zeit für die Ausgabe. Ich stehe auf. In meinem Hals steckt Irgendwas. Ich gehe zur Tür.
„Warte!“, sagt Helga. Will mich festhalten. „In einer Stunde sind alle wieder weg. Dann hab ich Zeit.“
„Ich muss los.“

Ich renne und schnaufe, und die Tüte knallt gegen meine Beine. Die Bänke sind voller Penner und Omas mit kleinen Hunden. Pap liegt daheim und wartet. Ich renne schneller. Hier ist alles voll mit normalen Leuten. Sie essen Semmeln und trinken Pappbecherkaffee. Mama hat auch immer Pappbecherkaffee getrunken, obwohl Pap gefunden hat, dass das eine Umweltsünde ist.
Der Bus hupt. Fast hätte er einen Jungen mit Käppi umgefahren. Auch junge Leute sterben. Der Welt sind die Menschen egal. Sie hat genug davon.Unser Haus. Endlich. Der Schlüssel trifft das Schloss erst beim dritten Mal. Ich bin viel zu spät. Aber ich habe Helga nichts gesagt, nichts. Wenn Pap nicht mehr so müde ist, gehen wir gemeinsam zu ihr. Wir werden wieder weniger kriegen, nur genauso viel wie alle anderen, aber es wird uns nichts machen, weil wir uns wieder haben.

Ich renne die Treppe hoch. Vor unserer Wohnung bleibe ich stehen und schaue in die Tüte. Kirschen! Obendrauf eine volle Schale, Viele sind raus gefallen beim Rennen. Hellrot und wie neu, und trotzdem wollte sie niemand mehr haben! Ich nehme eine in den Mund und sauge an der weichen Kugel. Der Saft ist süß und schmeckt nach Sommer. Ich schlucke am Kern vorbei, bis nur noch das kleine Harte übrig bleibt. Es springt mit einem Flopp hinaus und klickt auf den Holzboden. Sommer, endlich. Da muss sogar Pap sich freuen. Die nächste Kirsche ist für ihn.
Jetzt treffe ich das Schloss. Laute Stimmen. Eine Liebesserie, dann ist es nach vier. Leise, leise. Ich mag es lieber, wenn ich Pap zuerst sehen kann: wie er langsam den Kopf hochhebt und seine Glatze verschwindet, wenn er „Hallo Niklas“ sagt. Dann fällt sein Kopf wieder nach unten, und es bleibt nur die Glatze übrig. Pap sitzt da wie immer. Eine halbvolle Weinflasche. Die Leute im Fernseher lachen.

„Hallo, Pap!“ Die Glatze bewegt sich nicht.
„Ich war bei Helga, schau, es gibt sogar Kirschen!“ Nichts.
„Pap, ich wollte nicht, dass es so lange dauert. Das war weil …“
Auf dem Tisch liegt eine Schachtel. Tabletten?
„Pap? Was ist mit dir?“ Mir fällt die Tüte runter. Überall Kirschen.„Pap!“ Ich schüttle seine Schultern, aber …
„Pa-hap!“
Die Weinflasche klimpert auf dem Glastisch, Paps Kopf fällt auf die Seite.
„Bitte, Pap, bitte …“ Lieber Gott, mach, dass er sich bewegt! Mach, dass er nicht …
„Niklas …!“
„Pap!“
Meine Knie wackeln, so froh bin ich auf einmal.
„Was ist denn los?“ Pap kratzt sich am Kopf. „Was ist?“, fragt Pap nochmal.
„Nichts“, sage ich. „Schau, Pap, Kirschen. Es ist Sommer.“

Marion Zechner

(Verkürzte Version der im Finale des Haidhauser Werkstattpreises 2016 vorgetragenen Geschichte)