Bücher als Kulturvermittler
Die Tolstoi-Bibliothek

Sie liegt versteckt, und man muss suchen, um ihren Namen auf dem Schilderwald im Eingangsbereich der Thierschstr. 11 zu finden. Zur Straße macht sich die Front des Klavierhauses Fischer breit, darüber im 2. Stock hat sie ihre Räume, die Tolstoi-Bibliothek, die größte mit russischer Literatur außerhalb Russlands. Hier stehen auf 220 Quadratmetern russischsprachigen und an russischer Kultur interessierten Mitbürgern mehr als 46.000 Bücher als Präsenzbestand oder zur Ausleihe zur Verfügung, über alle Nationalitäten und Konfessionen hinweg. „Wir sind für die Menschen da, schauen uns weder an, woher sie kommen, noch, was ihr Glaube ist“, sagt Geschäftsführerin Tatjana Erschow. Diese Neutralität hat die Bibliothek seit ihrer Gründung durch alle Fährnisse geführt und den Münchnern das einzige gewachsene russische Kulturzentrum dieser Größenordnung über die Grenzen Deutschlands hinaus beschert.

Entstanden ist die Tolstoi-Bibliothek 1949 als eine der europäischen Filialen der amerikanischen Tolstoy-Foundation, der 10 Jahre zuvor von Alexandra Tolstoy, der jüngsten Tochter von Leo Tolstoi, gegründeten humanitären Hilfsorganisation. Eine Gruppe von Flüchtlingen aus dem russischen Sprachgebiet stellten mit ihren Büchern, die sie wie Kostbarkeiten im Gepäck trugen – „ein Russe ist nicht vorstellbar ohne Buch“ –, eine bescheidene Bibliothek zusammen. Das war der Beginn. Im Lauf der Jahre kam aus Spenden, Schenkungen, Erbschaften, Zusammenführung von aufgelösten Bibliotheken und eigenen Ankäufen ein stattlicher Bestand zustande. „Uns erreichen Kisten mit Büchern von überall auf der Welt lebenden russischsprachigen Menschen.“ Neben zeitgenössischer und klassischer russischer Literatur, russischen Übersetzungen der Weltliteratur, besonders auch der deutschen, stehen Enzyklopädien, Fachbücher aus Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Religion, Kinderbücher und eine große Auswahl an Zeitungen und Zeitschriften zur Verfügung. Als Herzstück der Bibliothek bezeichnet Tatjana Erschow den Fundus an Emigrationsausgaben, Bücher, die in von Russen in der Emigration gegründeten Verlagen veröffentlicht wurden, wahre Raritäten, die es als 4000 Bände umfassende Sammlung nirgendwo anders gibt und für Historiker besonders wertvoll ist. In die Bibliothek kommen vorrangig Leser, die nach Lektüre suchen, aber auch Studenten, die an einer Arbeit schreiben, deutsche Wissenschaftler, Slawisten, Dolmetscher und andere, an russischer Kultur Interessierte.

Tatjana Erschow arbeitet seit 31 Jahren für die Bibliothek, seit 15 Jahren als Geschäftsführerin. Liebe zur Literatur liegt der Deutsch-Russin im Blut. „Was wir hier tun, ist sehr sinnvoll. Wir helfen, die kulturelle Identität des Herkunftslandes, Sprache und Kultur zu bewahren und weiterzugeben.“ So richtet sich die zweisprachige russisch-deutsche Vorlesereihe „Spielend Lesen“ an Kinder zwischen vier und acht Jahren. Im Literatur-Club diskutieren Jugendliche und junge Erwachsene über literarische Schwergewichte wie etwa Goethes Faust, Ulysses von James Joyce oder Dostojewskis Idiot. Ein Lesekreis für Erwachsene rundet das Angebot ab. „Wenn man aus zwei Kulturen kommt und in einer aufwächst, ist es sehr wichtig, dass die andere Kultur auch vertreten ist, sonst fehlt einem ein Stück.“ Tatjana Erschow spricht aus eigener Erfahrung. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Russe.

Eine abgeschlossene Welt will die Tolstoi-Bibliothek aber nicht sein, auch wenn es aus den deckenhohen Regalen, in denen die Bücher dicht an dicht stehen, sozusagen nur auf Russisch raunt. Monatlich finden etwa zwei Veranstaltungen statt, die sich gleichermaßen an deutsch- wie russischsprachige Mitbürger richten. Lesungen, Vorträge, Konzerte, Ausstellungen, Filme, im Februar wieder mit einem Poetry-Slam (siehe Kalender). Auch an der „Langen Nacht der Museen“ beteiligt sich die Bibliothek mit einem bunt gemischten Programm. Und im Spätherbst ist eine Studioausstellung geplant über ein Ereignis in der Münchner Stadtgeschichte, das beispielhaft war. „Da wollen wir den Münchnern zeigen“, sagt Tatjana Erschow, „was hier geleistet wurde, als sie in ihrer zerstörten Stadt Tausende von russischen Displaced Persons aufgenommen, sie versorgt und an ihre Bestimmungsorte weitergeleitet haben.“
Katrina Behrend Lesch

Tolstoi-Bibliothek, Thierschstr. 11,
80538 München, Tel: 089-29 9775,
tolstoi@tolstoi.de

In unsere Reihe „Münchens Literarische Orte“ stellten wir bislang vor:
Substanz, Autorengalerie, La Cantina, Vereinsheim, Streitfeld, Haidhauser
Literaturbox1 und Von Parish-Kostümbibliothek