Seiner Zeit weit voraus
Frank Wedekind und sein Brunnen / Todestag vor hundert Jahren

Von Stefanie Bürgers

Eine Bank unter lauschigen Bäumen im Halbrund nahe dem Brunnen. Das liebliche Lächeln der von Ferdinand Filler geschaffenen Brunnennymphe am Wedekindplatz in Schwabing lädt zum Verweilen. Von der abgründigen Tiefe, in die sie einen locken kann, ahnt man auf den ersten Blick nichts. Die sinnend an die Stirn gelegte Hand und die Schriftrolle weisen auf den Schriftsteller, die Lyra auf den Liedersänger, die Maske auf den Schauspieler Frank Wedekind. Artige Anerkennung eines viele Jahre abgelehnten Dichters. Die Deutung der Skulptur von 1959 meidet den Aufruhr, den Wedekind mit seinen Werken stets verursacht hat. Anatol Regnier, Enkel Wedekinds, damals 14 Jahre alt, erinnert sich an die Einweihungsfeier: Tribünen, der Theaterwissenschaftler Artur Kutscher war da, sogar das Fernsehen. Seine Mutter Pamela, die Tochter Wedekinds hat Wedekind-Lieder gesungen.

1962 sollten die Schwabinger Krawalle hier ihren Ursprung nehmen. „Halbstarke“ spielten am Wedekindplatz Gitarre und leisteten dem Platzverweis der Polizei nicht Folge, was zu tagelangen Unruhen führte. Ziviler Ungehorsam, das hätte Wedekind, dem Feuerkopf, Mitbegründer der politischen Satire gefallen. Der Platz für den Brunnen ist beziehungsreich, unweit der Lach-und Schießgesellschaft. Leitmotiv in Wedekinds Werk sind Geschlechterkampf und Sexualität. Nacktheit und Verletzlichkeit dieser Brunnenfigur zitieren durchaus sein Werk, sein Anliegen. Konfrontation mit der Doppelmoral der Kaiserzeit. Totschweigen und Unterdrückung der Sexualität, moralische Enge, sozialer Absturz, Freitod. Wie ein 68iger nahm Wedekind kein Blatt vor den Mund, nahm viel dafür in Kauf.

Regnier, der Enkel, ist gerne bereit, über den Großvater zu sprechen, in einem Schwabinger Café, unweit der ersten Wohnstätten von Wedekind in München. Mit Wärme und analytischer Schärfe erklärt er: „Wedekind war ein Mann, der versucht hat, Frauen zu verstehen und doch wusste, dass eine Frau nie einen Mann verstehen kann und umgekehrt. Es ist ihm nicht gelungen, das Geheimnis des Unterschieds zwischen Liebe und Erotik zu entschlüsseln“. Regnier wuchs mit den Liedern seines Großvaters auf, studierte klassische Gitarre. Auf das Schreiben kam er erst später. Regnier verabschiedet sich, steigt mit seinem Rucksack aufs Fahrrad und entschwindet in die Schwabinger Nacht.

München – ab 1889 mit Unterbrechungen Wedekinds Wahlheimat für fast 20 Jahre. Ein steter Kampf gegen die Zensur. Anfangs hielt sich Wedekind mit eigenwilliger Reklame für Maggi-Suppenwürze über Wasser. 1891 entstand in München „Frühlings Erwachen, Eine Kindertragödie“. Pubertierende Jugendliche, entdecken ihre Sexualität. In einer Welt der Prüderie ohne Verständnis scheitern sie fürchterlich. Zunächst gelang Wedekind nur ein Eigendruck mit einer Umschlagzeichnung Franz von Stucks, da sich aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung kein Verleger fand. Der Durchbruch folgte erst 1906 mit Max Reinhardts Aufführung von „Frühlings Erwachen“ in Berlin.

Trotzdem München? Ja: „München ist ein Arkadien zugleich und ein Babylon. Der stumme saturnalische Taumel, der sich hier bei jeder Gelegenheit der Seelen bemächtigt, behält auch für den Verwöhntesten seinen Reiz“(Frank Wedekind: Der Marquis von Keith, 1. Akt). Ab 1896 schreibt Wedekind für die satirische Zeitschrift „Simplicissimus“. Sein Gedicht über die Palästinafahrt des deutschen Kaisers bringt ihm sieben Monate Haft wegen Majestätsbeleidigung. Später wird er Mitbegründer des politisch-satirischen Kabaretts „Die elf Scharfrichter“, singt eigene Lieder und Balladen zu Gitarre und Laute, erst die von der Polizei erlaubten und dann auch die nicht erlaubten, wie er gerne ankündigt.

Den Affront hat Wedekind nicht vermieden, auch nicht gegenüber Dichterkollegen. So berichtet eine Anekdote von seinem kruden Umgang mit Max Halbe. Beide waren zerstritten, und angesichts einer ernsten Erkrankung Halbes hatte sich Wedekind mit diesem versöhnt. Bei einer erneuten Begegnung grüßt Wedekind nicht, denn die Versöhnung gelte nur „für den Todesfall“, so erklärt er. Ironie des Schicksals: Halbe ist es dann, der Wedekind eine Grabrede halten wird. Am 9. März 1918, vor hundert Jahren, ist Frank Wedekind verstorben. Auf seiner Beerdigung am Waldfriedhof, Tumult. Wedekind, so scheint es, war seiner Zeit voraus. Er ist es auch seinem Denkmal.

P.S. In einer Serie stellen die „LiteraturSeiten München“ Dichter-Denkmäler in der Landeshauptstadt vor. Bislang waren es die von Kurt Eisner, Heinrich Heine, J.W. Goethe und Lion Feuchtwanger.