Politisch und provokant
1968, vor 50 Jahren, wurde Rainer Werner Fassbinders ganz besondere Art der Schauspielkunst geboren

Von Ursula Sautmann

Rainer Werner Fassbinders Filme sind berühmt. Seine einschlägigen und praktischen Erfahrungen mit Bühne und Schauspiel, mit Buch, Regie und Inszenierung, begannen aber im Theater. Hier legte er die Grundlagen für seinen eigenen Stil. Im August 1967 stieß Fassbinder zum Action-Theater, einem Off-Theater mit gut 50 Plätzen in der Müllerstraße. Dort saß er täglich im Zuschauerraum, unübersehbar. Ein Ensemblemitglied brach sich den Arm, Fassbinder bekam die Rolle. Wenig später wurde er Mit-Regisseur bei Büchners „Leonce und Lena“ und inszenierte schließlich im Dezember „Die Verbrecher“ von Ferdinand Bruckner. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete das Theater am 21. Dezember als „eine der lebendigsten unter den zahlreichen Münchner Privatbühnen“. 

1968 war die Off-Theaterszene Münchens fest mit dem Namen Fassbinder verbunden. Die Premieren rauschten nur so am Publikum vorbei. Februar: „Zum Beispiel Ingolstadt“, April: „Katzelmacher“, April: „Axel Caesar Haarmann“, Juli: „Mockinpott“, August: „Orgie Ubuh“, Oktober: „Iphigenie auf Tauris“, November: „Hilferufe“, Dezember: „Ajax“, Dezember: „Der amerikanische Soldat“. „Katzelmacher“ und „Axel Caesar Haarmann“ hatte Fassbinder selbst geschrieben. Der zunehmenden Berühmtheit der Truppe tat es keinen Abbruch, dass das Action-Theater, wo alles begann, im Juni aus feuerpolizeilichen Gründen geschlossen wurde. Die Truppe machte weiter unter dem Namen antiteater und zog von der Müllerstraße 12 (mit Umwegen über das Büchner-Theater und die Münchner Akademie der Künste) ins Hinterzimmer der „Witwe Bolte“ in der Amalienstraße 87. Beide Theater wurden ernst genommen, die Aufführungen bundesweit in den Feuilletons besprochen.

Stück für Stück bildeten sich die entscheidenden Impulse heraus, die von Fassbinder und seinem Ensemble (Irm Hermann, Hanna Schygulla, Rudolf Waldemar Brem, Peer Raben, Kurt Raab, Doris Mattes, Lilith Ungerer, Ingrid Caven u.a.) ausgingen. Es gibt keine klassische Dramaturgie, keine fortschreitende Handlung, stattdessen reihen sich arrangierte Szenen aneinander. Die Schauspieler stellen keine Charaktere dar, entwickeln sich nicht, glänzen nicht durch schauspielerische Fertigkeiten in Mimik und Gestik. Sie präsentieren sich wie Figuren einer Spieluhr. Auf der Bühne stehen keine Individuen, keine Charaktere, wichtig sind die sozialen Beziehungen. Der Zuschauer wird zu Distanz gezwungen, darf sich nicht identifizieren. Es gibt kaum Requisiten oder Kostüme. Die Dialoge sind sparsam, monoton, im Dialekt gesprochen. Jedes Wort wirkt. Sprache wird selbst zur handelnden Figur. Die Eintrittskarten sind preiswert und werden kaum kontrolliert, Bier und Zigaretten sind erlaubt. „Da wird eine moderne Konzeption von Theater sichtbar, die sich entschieden vom illusionistischen Prinzip vergangener Zeiten … abhebt“, hieß es in der Frankfurter Rundschau. Die AZ nannte das Action-Theater im Juni „Münchens experimentierfreudigstes Theater“.

Nicht alle Kritiken waren positiv. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte „Zum Beispiel Ingolstadt. Nach Motiven von Marieluise Fleißer“ mit den Zeilen: „Der Nachwuchs, der sich gebärdet, als wäre er einer, möchte kalt und gefühllos sein, bleibt blaß und ausdruckslos, verwechselt Monotonie mit Modernität. Er verachtet das Illusionstheater, verzichtet radikal auf die Illusion, die Theater und Talent heißt“. In der Besprechung wird kein einziger Mitwirkender namentlich erwähnt – ein Schlag ins Gesicht der Truppe also. Die „Orgie Ubuh“ lieferte, was der Titel versprach: Erst Slips, dann Striptease und wohl unzüchtige Beweglichkeit, dazu einen laufenden Fernseher, Bierflaschen, Bildzeitung. Die Zuschauer kamen in Scharen. Fassbinder und sein Theater hatten sich einen Namen gemacht, einen festen Platz in der Szene erarbeitet. Zu „Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang von Goethe“ hieß es in der SZ: „Gerade weil das so lebendig und anregend ist, weitab vom selbstzufriedenen Seiltänzer-‚Avantgardismus‘ anderer Untergrundbühnen – eben das Gegenteil eines sich abkapselnden ‚Kunstwerks‘, heftig und nach allen Seiten ausschlagend –, will ich doch auch sagen, daß es um einiges besser sein könnte, müßte.“

Im Programmzettel zu „Der amerikanische Soldat“ schrieb Fassbinder: „Das Wichtigste ist, scheint mir, Unbehagen an den Einrichtungen und Ordnungen des Bürgertums zu schaffen.“ Fassbinders Theater 1968 war politisches Theater. Er wollte nicht unterhalten, sondern herausfordern. Am deutlichsten wurde das wohl in „Axel Caesar Haarmann“, wo am Ende das Publikum mit Wasser aus einem Gartenschlauch bespritzt wurde, wie wenige Tage zuvor mit Wasserwerfern die Demonstranten, die – nachdem Rudi Dutschke am 11. April
angeschossen wurde – für Demokratie und gegen die Bildzeitung, gegen Notstandsgesetze, atomare Aufrüstung und Vietnamkrieg demonstriert hatten. Die Zuschauer wurden zu zivilem Ungehorsam und aktiven Widerstand aufgefordert. Die Idee eines Theaters, das sich kritisch einmischt, hielt auch Einzug in die etablierten Theater. Mitglieder der Kammerspiele riefen dazu auf, während der Vorstellungen gegen die Notstandsgesetze zu protestieren, statt nur passiv zu konsumieren. 1968 war – für alle – ein Jahr des Auf-Bruchs, für Fassbinder der Aufbruch in eine beispiellose (Film-)Karriere.