Ulrike Draesner baut auf die Kraft der Sprache

Von Ursula Sautmann

Flucht und Vertreibung, Krieg und Exil sind Ereignisse und Erlebnisse, die Millionen von Menschen passieren und ihre Wirkung entfalten. Allzu oft sind sie so schmerzhaft, dass die Sprache versagt und nur noch das Schweigen bleibt. Ulrike Draesner ist aufgewachsen in einer bayerisch-schlesischen Familie mit eigener Fluchtgeschichte. Sie ist das auslösende Moment für ihre Trilogie über Flucht und Vertreibung. Die Autorin greift Erlebnisse und Erfahrungen in Zusammenhang mit Krieg und Exil auf und überführt sie in Romane, in Literatur.

Der erste Band, „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (erschienen 2014), setzt sich auseinander mit der Fluchtgeschichte der eigenen Familie. „Die emotionale Textur ist nicht erfunden“, sagt die Autorin im Gespräch. Sie findet eine Sprache für Emotionen, die über vier Generationen hinweg lebendig, aber nicht sprechbar sind. Mit dem Buch setzt sie sich zur Wehr gegen das Verharren in Anekdoten und gegen eine Vereisung der Gefühle. Sie sieht eine „intergenerationelle Traumatisierung“ als Folge eines Schweigegebots. Es habe sie viel gekostet, erzählt sie, das Eis zum Schmelzen zu bringen. Die beschriebene Familie ist einzigartig, das Erlebte universell.

Der zweite Band der Trilogie, „Schwitters“, ist einem fremden Leben im Exil gewidmet. Kurt Schwitters, Maler, Dichter, Raumkünstler und Werbegrafiker, wird dem Dadaismus und Konstruktivismus zugerechnet, sein Lautgedicht „Ursonate“ und der Merzbau in seiner Wohnung in Hannover sind weltberühmt. Schwitters muss im Januar 1937 seinen Geburts- und Wohnort Hannover verlassen, weil die Nationalsozialisten seine Kunst als „entartet“ diffamieren und sein Leben bedrohen. Er ist bald 50 und seit mehr als 20 Jahren mit Helma verheiratet. Er flüchtet mit dem gemeinsamen Sohn Ernst nach Norwegen, 1940 weiter nach England, wo er zunächst in Lagern festgehalten wird. Nach der Entlassung 1941 lernt er Edith Thomas kennen, die seine Lebensgefährtin wird, und lebt ab 1945 mit ihr in Ambleside im Lake District in Nordengland. Im Januar 1948 stirbt er: arm, krank und hungrig, aber als aktiver Künstler. Im Inneren des Buchumschlags von „Schwitters“ wird in zwei Abrissen seines Lebens das Nebeneinander von Aufgehobenheit und Ausgeliefertsein deutlich. Draesner füllt die Lücken mit ihrer Imagination.

Der Roman beginnt Ende 1936, als Schwitters‘ geordnetes Leben auseinanderfällt, ihm alles genommen wird, Besitz, Familie, das Arbeitsumfeld, die Sprache. Sprachlosigkeit also auch hier, im Exil. Die Autorin findet eine ganz eigene literarische Sprache, um das Leben des Künstlers in seinem letzten Jahrzehnt zu rekonstruieren. Sie verschiebt die Grenzen zwischen Fühlen und Schreiben. Die Stilmittel sind vielfältig. Auffällig sind Wortkaskaden, die immer wieder den Lesefluss unterbrechen und dabei voller Lust und Witz mit Wörtern spielen. Natur und Tiere sind im Exil des Künstlers allgegenwärtig. „Die Landschaft saß den Menschen im Blut, in den Gliedmaßen, im Herzen“, schreibt Draesner über England und folgt im Roman  dem Prozess, der Bäche, Wolken und Schafe einfließen lässt in eine neue Merzwand des Künstlers; diese englische Version, sagt die Autorin, unterscheide sich fundamental von der Originalversion in Hannover. Dort sei es um eine Installation als Körper gegangen, der begehbar und von innen heraus erfahrbar war. In England sei etwas völlig anderes entstanden, eine Explosion an Lebensfreude, Energie und Freiheit. Da wird „Natur in Kunst übersetzt“, wie es im Buch heißt. Kunst, sagt Draesner, könne Freiheitsräume erschließen.

In „Schwitters“ steckt auch eine Liebesgeschichte. Da gibt es die Ehefrau, die in Hannover bleibt und Familie, Besitz und Werk des Künstlers verwaltet. Da gibt es die junge Frau in England, die mit dem Künstler ein hartes, entbehrungsreiches Leben teilt. Da gibt es viele Frauen im Leben des Künstlers. Die Autorin steht ihnen wie allen Figuren im Buch zur Seite, gibt ihnen Würde, baut auf die universelle Kraft der Kunst und der Liebe. Das könnte kitschig sein, gelingt aber berührend.

Ulrike Draesner arbeitet am dritten Band der Trilogie. Es soll um Mütter und Töchter gehen, um die Gewalt, die den Müttern zugefügt wurde in den letzten Kriegsjahren und ihre Weitergabe an die Töchter.

„Schwitters“ wurde im vergangenen Jahr mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Ulrike Draesner wurde in München geboren und wuchs in Planegg auf. Seit 2018 leitet sie das Deutsche Literaturinstitut Leipzig. Sie publizierte Gedichtbände, Romane, Erzähl- und Essaybände und Hörspiele und übersetzte die Gedichte der Nobelpreisträgerin Louise Glück.

Ulrike Draesner:
Schwitters
Roman, Hardcover
471 Seiten
Penguin Verlag
München 2020
25 Euro

Ulrike Draesner:
Sieben Sprünge vom Rand der Welt, Roman
Hardcover, 560 Seiten
Luchterhand Verlag
München 2014
21,99 Euro