Erinnerungen an Ursula Haeusgen. Ein Gespräch mit Holger Pils, Geschäftsführer des Lyrik Kabinetts

Von Michael Berwanger

Wochen nach dem Tod von Ursula Haeusgen sind die Mitarbeiter*innen des Lyrik Kabinetts immer noch erschüttert. Bis zuletzt war die Gründerin und Mäzenin im Vorstand tätig und für alle eine Ansprechpartnerin. Die Stiftung, die sie ins Leben gerufen hat, ist geprägt von der Kraft ihrer Gründerin und lässt den Geist, in dem sie erschaffen worden ist, spüren.

„Ursula Haeusgen war eine sehr herzenswarme Person. Sie hat sich sehr gekümmert und gesorgt, das war etwas ganz Typisches für sie und sehr eindrucksvoll. Sie war auch eine wundervolle Gastgeberin. Es war ihr immer wichtig, dass das Haus offen steht, dass jeder willkommen ist und dass man ein bisschen zusammenrückt, damit für jeden Platz ist.“

Holger Pils, seit 2014 Geschäftsführer des Lyrik Kabinetts, sitzt in seinem frisch geweißelten Büro (ein Wasserschaden hatte eine Renovierung notwendig gemacht). An Begegnungen mit Ursula Haeusgen erinnert er sich gerne und erzählt von deren schöpferischer Kraft, die ihn jedes Mal beeindruckt habe.

„Sie war jemand, der die Dinge einfach angefasst hat. Sie hat Dinge umsetzen wollen und sie war sehr beharrlich dabei, kampfesmutig, wenn es sein musste. Wenn sie das Gefühl hatte, es gibt ein Hindernis, dann hat sie das auch wirklich angespornt zu sagen: ,Das räumen wir aus dem Weg.‘ Für das Lyrik Kabinett war ihr immer wichtig, dass sie unabhängig und frei war. Der inneren Überzeugung folgen zu können, war das Wichtigste.“

Wenn Holger Pils vom Geist und von der Kraft der Gründerin schwärmt, zieht ein dankbares Lächeln über sein Gesicht. Er beschreibt Ursula Haeusgen als den Inbegriff einer zugewandten Leserin, die ihr Wissen und ihre Kompetenz gerne unter den Scheffel stellte, „das war natürlich ein gewisses Understatement, wenn sie sagte: ,Ach, ich bin ja nicht vom Fach‘.“ Ganz so stimmt das natürlich nicht. Zwar hatte sie keine literaturwissenschaftliche Ausbildung, aber sie war eine sehr leidenschaftliche und exzessive Leserin, hatte in den vielen Jahren die meisten Lyriker*innen persönlich kennen gelernt und sich ein ungeheures Fachwissen auf dem Gebiet der Poesie aufgebaut. Nach dem Ende ihrer Buchhandlung hat sie mit einer Schenkung an den Trägerverein den Grundstock gelegt für eine literarische Begegnungsstätte, die es in dieser Form vor dreißig Jahren noch nicht gegeben hat. Die meisten Literaturhäuser in Deutschland feiern derzeit ihr 20- oder 25-jähriges Bestehen, doch bereits 1989 hatte Ursula Haeusgen mit ihren Veranstaltungen begonnen, einfach, weil sie die Künstler*innen treffen wollte. Ein persönlicher und intuitiver, kein wissenschaftlicher Zugang.

„Sie hat sich ausgetauscht mit denjenigen, die sich in bestimmten Sprachen und Literaturen gut auskannten und hat ein dauerhaftes Gespräch mit ihnen geführt. Aber die Gewissheit, dass wir im Lyrik Kabinett am Ende selbst zu entscheiden haben, was zu machen ist, das war ihr schon sehr wichtig. Das gilt für die Unabhängigkeit in der Programmgestaltung genauso wie für die Entwicklung des Hauses insgesamt. Denn wenn sie in den dreißig Jahren diese Freiheit nicht gehabt hätte, dann wäre es nie zu so etwas wie dem Lyrik Kabinett gekommen, weil man sich das ja so nicht am Reißbrett ausgedacht hätte. Sie hat es Schritt für Schritt entwickelt. Die allermeisten Menschen haben ja auch am Anfang gefragt, ob das nicht ein bisschen verrückt sei. Aber davon hat sie sich überhaupt nicht beirren lassen.“

Diese Kraft und Zugewandtheit von Ursula Haeusgen kommt jetzt in Form sehr persönlicher Reaktionen wieder zurück. Viele Lyriker*innen erinnern sich daran, dass sie sich bei ihr das erste Mal ausprobieren konnten (s. u.): „Viele Zuschriften verknüpften sich mit persönlichen Begegnungen und mit viel Dankbarkeit. Diese warme Woge an Sympathie, die jetzt auf uns zugekommen ist, hat mich sehr beeindruckt.“

Jetzt bleibt natürlich noch die Frage, wie es weitergehen soll. Mit dem Lyrik Kabinett in München und der Lyrik an sich. „Das ganz große bleibende Verdienst Ursula Haeusgens ist ja die Tatsache, dass das Lyrik Kabinett tatsächlich existiert. Das ist das, was mich in diesem Moment wirklich bewegt und gleichzeitig motiviert: Wir sind da, wir werden auch in Zukunft da sein und wir können weiter machen. Wir werden weiter versuchen, den Kreis unserer Unterstützer und Förderer zu vergrößern. Das ist eine der stetigen Aufgaben. Seit dem letzten Jahr werden wir institutionell durch die Landeshauptstadt München gefördert, das ist ein wichtiger Schritt zur Zukunftssicherung. Mit den Veranstaltungen geht es derzeit online weiter, wir bieten sie von Monat zu Monat an. Wir haben aber auch Einiges aufgeschoben – da könnte man eine Wundertüte aufschnüren, wenn wieder Präsenzveranstaltungen möglich sind. Es ist für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter natürlich jetzt eine sehr traurige Situation, zu wissen, dass diejenige dann fehlen wird, die sonst immer da war und ohne die es diese Veranstaltungen hier nicht geben würde. Aber es geht mit der Arbeit so weiter, wie Frau Haeusgen es vorausschauend angelegt hat und wie sie es sich gewünscht hat.“ 

Biografische Angaben

Ursula Haeusgen (*1942 in München)
1989 Eröffnung einer auf Lyrik und Künstlerbücher spezialisierten Buchhandlung in der Maximilianstraße
1994 Gründung des Vereins „Lyrik Kabinett“
2003 Gründung der Stiftung Lyrik Kabinett
Das Lyrik Kabinett wächst zu einer der größten und bedeutendsten Lyrik-Bibliotheken Europas.
Ursula Haeusgen stirbt am 20. Januar 2021.

Dr. Holger Pils (*1976 in Rotenburg/Wümme)
Studiert Germanistik, Geschichte und Spanisch in Heidelberg und promoviert über Thomas Mann.
Seit 2014 Geschäftsführer der Stiftung Lyrik Kabinett
Seit 2018 auch im Vorstand der Stiftung Lyrik Kabinett

Aus dem Kondolenzbuch

Ich erinnere mich 1999, ich war auf dem ersten textwerk-Seminar im Münchner Literaturhaus für Lyriker/innen, und Ursula Haeusgen war zu Gast, ich erinnere mich also daran, was für eine enorme Ermunterung und Freude es war, aus jedem ihrer Worte zu hören, was für eine tiefe, geradezu körperliche Beziehung sie zu Gedichten hat, und welche existenzielle Bedeutung Poesie für sie hatte. Auf mich, als damals sehr junge Dichterin, hat das einen bleibenden, Mut stiftenden Eindruck gemacht.
Anja Utler

Das ist eine entsetzliche Nachricht, ein unermeßlicher Verlust – was für eine erstaunliche, großherzige, neugierige Frau, was für ein Engagement und, ja, Liebesvermögen.
Jan Wagner

Die Begegnung mit Ursula Haeusgen steht ganz am Anfang meiner „Laufbahn“ als Dichter. Alles fing in ihrem Laden in der Maximilianstraße an. Um wieviel persönlicher war damals noch das Engagement für die Literatur. Und hier war jemand, der sie in ihrer anspruchsvollsten Form liebte. Ursula Haeusgen wird mir fehlen.
Durs Grünbein

Was für eine traurige Nachricht, sie trifft mich sehr. Ursula Haeusgen war wirklich eine der Großen der Lyrik. Lesend, sammelnd, fördernd. Was wäre das Gedicht und was wären wir Schreibenden ohne ihre Energie. Ohne ihre Ausdauer. Ohne den Ort in der Amalienstraße. Ohne all die Bücher.
Nico Bleutge