Mit Gedichten gegen die Vulgarität des Herzens

Ursula Haeusgen sammelt Lyrik

50.000 Bände Lyrik hat Ursula Haeusgen in einem viertel Jahrhundert zusammen getragen. Seit 2005 steht dieser Schatz den Münchner im Lyrik Kabinett im Hinterhof der Amalienstraße 83 zur Verfügung. Für die Sammlerin gehört das Gedicht zum Leben wie die Luft zum Atmen. Deshalb ist es für sie selbstverständlich, ihre Sammlung als Bibliothek öffentlich zugänglich zu machen. Tagtäglich sichtet sie Neuerscheinungen und Erstausgaben, stellt Kontakte her zu in- und ausländischen Poeten und organisiert ihnen eine Bühne im Veranstaltungssaal inmitten von Bücherschränken. Und ganz nebenbei sammelt sie auch noch Künstlerbücher und Arbeiten der bildenden Kunst.

Gedichte haben Ursula Haeusgen schon immer in einer ganz besonderen Weise angesprochen. Gedichte, sagt sie, gibt es in jeder Sprache. Und es gibt sie von Anbeginn an. Klagen, Anrufungen, Gebete, Zaubersprüche, Sprachspielereien, sie alle stehen für das Bedürfnis der Menschen, nicht nur sich auszudrücken, sondern sich die Welt und das Leben verständlich zu machen. Gern zitiert die gebürtige Münchnerin Johann Georg G. Hamann, der die Poesie als „die Muttersprache des Menschengeschlechts“ bezeichnete. Gedichte können verzaubern, und sie können verstören; ohne Wirkung sind sie nie. Und sie entfalten ihre Wirkung auf die Seele in einer ganz besonders konzentrierten Weise.

Es war kein gerader Weg vom Bücherregal mit Lyrikbänden zum Lyrik Kabinett in der heutigen Form. Als ihre drei Kinder erwachsen waren, eröffnete Ursula Haeusgen in einem zum Abriss bestimmten Bürohaus in einer Seitenstraße der Maximilianstrasse eine kleine Lyrik-Buchhandlung, neben den lieferbaren Büchern bereits damals auch mit antiquarischen und Künstlerbüchern. Auch Lesungen gehörten schon damals zum Programm und fanden durchaus ein Publikum. Dann wurde das Haus tatsächlich abgerissen. „Da“, sagt die Lyrikliebhaberin heute, „habe ich einen großen Fehler gemacht. Ich habe einen Laden in der Maximilianstrasse gemietet, weil ich dachte, nicht weit entfernt von den Museen und in der Nähe vieler Galerien würde ich in der Woche doch zumindest ein Künstlerbuch verkaufen und käme damit bezüglich der Miete auf plus/minus Null. Das war ein Irrtum. Es kamen zwar viele Künstler, selbst aus Amerika, um mir ihre Bücher anzubieten – aber Liebhaber oder Kunden dafür gab es nur sehr wenige.“ Sie musste die Buchhandlung schließen. Doch die Liebe zur Lyrik und den Wunsch, diese Liebe zu teilen, ließ sie sich nicht austreiben.

Die Jahre der Wanderschaft begannen. Vorübergehend bahnte sich eine Möglichkeit zur Kooperation mit dem neu gegründeten Literaturhaus an. Die Zusammenarbeit mit der Universität und dem damaligen Lehrstuhl für Komparatistik erwies sich aber als nachhaltiger. Nach verschiedenen Stationen und verschiedenen Lesungsorten zog das Lyrik Kabinett, das die Sammlerin inzwischen in einen Verein überführt hatte, in die Seminarräume von Prof. Hendrik Birus. Und als diese für die wachsende Bibliothek zu klein wurden, übertrug sie einen größeren Teil ihres Erbes in eine Stiftung, um endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Die Stiftung pachtete den Hinterhof in der Amalienstraße von der Universität und eröffnete 2004 das Lyrik Kabinett, wie die Münchner es heute kennen.

Die Sammlung umfasst fünf Bereiche. Deutschsprachige Lyrik sowie Übersetzungen ins Deutsche bilden die Grundlage, Lyrik in englisch-, französisch-, spanisch- und italienischsprachigen Originalausgaben sowie einzelne Bände in allen möglichen Sprachen runden die Sammlung ab, antiquarisch erworbene Bände machen einen nicht kleinen Teil der Sammlung aus, Künstlerbücher zum Thema Poesie sind immer noch ein ergänzendes Steckenpferd der Sammlerin. Jährlich kommen etwa 1500 Monographien hinzu, 42 Literaturzeitschriften sind fest abonniert. Der Bestand ist nach den Regeln des Bayerischen Bibliothekverbunds katalogisiert. Es gibt drei PC-Arbeitsplätze. Und wer lesen (und studieren oder auch nur genießen) will, tut dies in der stillen Obhut von Kunstwerken, die Münchner Künstler nicht eben selten in tiefer Verbundenheit zur Stifterin geschaffen haben. Architektur und Einrichtung der Bibliothek strahlen Frohsinn aus – die Leser(innen) mögen es überprüfen.

Das Lyrik Kabinett will Lust auf Lyrik machen und pflegen. Die Instrumente sind zahlreich, neuerdings werden sie in Gang gesetzt von Dr. Holger Pils, der am 1. Januar die Geschäftsführung übernommen hat. Da gibt es zum einen die regelmäßigen Lesungen, mal mit zeitgenössischen Autoren, mal über Schriftsteller früherer Generationen. Fremdsprachige Autoren lesen immer auch in ihrer Muttersprache. Im Veranstaltungsprogramm finden sich Poetry Slams ebenso wie Diskussionsrunden („Neueste deutsche Lyrik“). Die „Münchner Reden zur Poesie“ bieten ein Forum in Heftform für die Positionierung der Dichtung im großen Rahmen der Literatur. Das Lyrik Kabinett betätigt sich also auch als Kleinstverlag und arbeitet unter anderem mit der Bayerischen Staatsbibliothek, der Israelitischen Kultusgemeinde, dem Bayerischen Rundfunk, der Künstlerseelsorge und verschiedenen Kulturinstituten zusammen.

Der Mensch braucht die Dichtung, und Dichtung braucht ein Publikum, dafür steht die Lyriksammlerin Ursula Haeusgen, denn die Poesie ist – und auch hier zitiert die Sammlerin – „die einzig verfügbare Versicherung gegen die Vulgarität des Herzens“ (Joseph Brodsky).
Ursula Sautmann

Die Bibliothek ist geöffnet Montag und Mittwoch von 10 bis 13 Uhr, Dienstag und Donnerstag von 15 bis 21 Uhr (an Veranstaltungstagen nur bis 18 Uhr), Samstag von 12 bis 18 Uhr. Das Programm findet sich unter www.lyrik-kabinett.de und in den LiteraturSeiten München.