Lyrik, ach, wo bleibt dein Frühling! Der Frost krallt sich in die Erde bis tief hinein in den März, und auch das zarte Pflänzchen Lyrik wagt sich zwischen den Eisplatten von Krimis und Thrillern, der Lava dröger, dickleibiger Prosa kaum ans Licht. Poesie spreizt sich aber auch, ist pubertär, abweisend, streitlustig und will nicht immer verstanden werden. Aber: Lyrik ist auch, was im Ohr hängen bleibt, gesungen, geschmalzt, geträllert. Wer wusste das besser, als der Großlyriker Udo Bockelmann alias Jürgens, de mortuis nil nisi: „Siebzehn Jahr, blondes Haar…“, ist das nicht eigentlich ein verkapptes Frühlingspoem? Kaum ein anderer oder wagen wir zu sagen: Kein anderer hat es geschafft, derart viele lyrische Ohrwürmer in unsere Gehirne zu pflanzen, wie der ewige große Junge, der nach Konzerten im weißen Bademantel vom Podium herunter Jung und Alt die Hände reichte und reichen wollte bis in alle Ewigkeit – 60 Jahre Erfolg auf Erfolg . Über 100 Millionen Tonträger verkauft. Und doch, der Zweifel nagt: Musste er seine Tournee mit 80 Jahren „Mitten im Leben“ nennen? War das nicht klassische Lyriker-Hybris, wie sie seit eh und jäh bestraft wird?

Hölderlin, null Tonträger, hatte übermütig 1798, weh mir wo nehm ich, wenn es Winter ist, die „Hälfte des Lebens“ besungen, wohl in der Annahme, die zweite läge noch vor ihm und erlitt damit Schiffbruch, weil er schon wenige Jahre danach (manche sagen, schon während) in geistige Umnachtung geholt wurde – von den Göttern, ganz offenbar, wo er mit ihnen im Dunklen diese zweite Halbzeit spielen musste. Hängen wir den weißen Bademantel von Udo J.  nur einmal probeweise um die Schultern des Nürtingers Friedrich H., so wird schnell deutlich, dass dieser wohl noch nicht einmal in der nächtlichen Hälfte seines Lebens derart albernweiß ummäntelt auf den Gedanken verfallen wäre, seine Fans zu verabschieden, wobei andererseits er eben nie in die Verlegenheit des Händeschüttelns – Schiffbruch? Wenn das nicht das eigentliche Thema des Dichters ist, was dann?

Er darf, er soll sein Schiff verlieren. Am besten in jedem Gedicht. Aufbrechen, Risiko, das Gewohnte verlassen usw. Michael Krüger hat Recht, wenn er, wie jetzt auf der Poetica 1 in Köln sich zur Poesie bekennt: Sie kann spannend sein, existentiell, geheimnisvoll, umwerfend. Aber eben auch siebzehn Jahr blondes Haar; oder um es mit Enzensberger auf den Punkt zu bringen: „Lyrik nervt“.
WH.