Ich fahr nicht gern mit der U-Bahn“, sagte Philip. „Aber wenn mein Auto streikt, bleibt mir nichts anderes übrig. Da hock ich dann und seh mir die Leute an, mit ihren Handys und Smartphones und Tablets, die sich für nichts anderes interessieren, und frag mich ernsthaft, was aus der Menschheit mal werden soll. Vor allem über die mit den E-Books wunder ich mich. So ein Teil ist doch sowas von seelenlos. Während ein Buch, das hat für mich was Sinnliches. Ein Buch hat für mich eine Seele.“
„Du bist absolut von gestern“, lachte Hannes. „Den E-Books gehört die Zukunft. Buchläden werden überflüssig, Hugendubel kann dichtmachen. Und ich überlege mir auch, so ein Teil anzuschaffen.“

Philip seufzte. Und dann wurde er lebhaft: „Hab ich dir eigentlich mal erzählt, wie ich Steffi kennengelernt hab? Ich bin in der U6. Neben mich setzt sich eine, die zieht aus ihrem Rucksack ein Buch. Der Distelfink von Donna Tartt. Ich bin sofort begeistert von der Frau. Den gleichen Roman habe ich nämlich in meiner Tasche. Ich kram ihn raus, sie sieht es, guckt mich an, als wär ich von einem andern Stern. Wir fangen an zu lachen. Und da sah ich, die Frau ist wunderschön. Wir sind gleich ins Gespräch gekommen, wie genial der Roman wär. Wenn jeder nur in sein E-Book gestarrt hätte, wär das nicht passiert, sie wäre an der nächsten Station ausgestiegen, und mein Glück mit ihr. Ich hab sie dann ins Rischart zu einem Cappuccino eingeladen. Und das war der Anfang. Wetten, dass du null Chance hast, eine Frau kennenzulernen, die sich nur für ihr elektronisches Teil interessiert? Ich setze einen Kasten Bier.“

Hannes nahm die Wette an. Da er selbst gern Krimis las, entschied er sich, um seine Charmeoffensive zu starten, für Arne
Dahls Falsche Opfer. Am nächsten Tag fuhr er mit der U6, sah sich nach einem Opfer um und hatte es schnell entdeckt: Ein junges Mädchen, das sich über ihr E-Book beugte. Hannes setzte sich ihr gegenüber und ließ seinen Rucksack auf ihre Füße fallen. „Entschuldigung, das war keine Absicht.“ – „Hä?“, machte sie, sah kurz auf und starrte wieder auf ihr Teil.

„Verzeihung, darf ich fragen, was Sie gerade lesen?“ – „Dürfen Sie nicht. Frage ich Sie vielleicht, was sie heute Morgen gefrühstückt haben?“

„Dürfen Sie gerne.“ Hannes zog seinen Krimi heraus. „Arne Dahl. Hab ich zu meinem Kaffee verschlungen, irre spannend. Das sollten Sie unbedingt …“ – „Sie nerven“, sagte sie, ohne aufzusehen.

„Das war nicht meine Absicht. Aber darf ich raten, was Sie so fasziniert? Ich tippe auf den Distelfink von Donna Tartt. Das soll ja ein ganz fantastischer Roman sein.“ – „Lassen Sie mich in Ruhe.“

Ihr giftiger Blick suggerierte ihm die Vorstellung von zwölf Flaschen Bier, die gerade in Philips Kühlschrank verschwanden. Aber noch gab er nicht auf.

„Eine letzte Frage“, er lächelte charmant, „warum lesen Sie nicht ein richtiges Buch? Eins zum Anfassen. Das ist doch viel sinnlicher.“ – „Mit Ihrer Sinnlichkeit gehen Sie mir auf den Geist. Außerdem sind Bücher von gestern. Und jetzt hören Sie auf mit Ihrem Gelaber.“

„Vielleicht haben Sie recht. Bücher sind von gestern. Aber Arne Dahl ist nicht von gestern.“ – „Krimis interessieren mich nicht. Ich lese Klassiker, Dostojewski und Tolstoi, wenn Ihnen das ein Begriff ist.“ Sie schaltete ihr E-Book aus und verstaute es in ihrer Tasche.

„Arne Dahl ist ein Klassiker“, sagte Hannes. „Der Klassiker unter den Krimiautoren. Ich würd es Ihnen gern mal leihen.“

Sie nahm das Buch und beäugte es. „Sind Sie vom Meinungsforschungsinstitut? Oder warum sind Sie so lästig?“

„Nein“, beteuerte er. „Ich finde es einfach nur toll, dass Sie sich für Klassiker interessieren. Deswegen würde ich Sie gern näher kennenlernen.“

Sie stand auf. „Ich muss raus. Da haben Sie Ihr Buch!“

Hannes winkte ab. „Ich schenke es Ihnen. Wollen wir uns morgen im Rischart treffen? Und Sie sagen mir, ob Sie vielleicht Ihre Meinung geändert haben? Um ehrlich zu sein, ich würde Sie einfach gern wiedersehen.“

Jetzt lächelte sie. Hannes triumphierte innerlich und holte im Geiste seine Bierflaschen wieder zurück.

„Morgen um zwölf im Rischart? Sie kommen?“ – „Ja“, sagte sie, „ich komme.“

„Wie heißen Sie?“ – „Das verrat ich Ihnen morgen.“

Sie stieg aus, lächelte ihm durch die Scheibe zu und ging beschwingt den Bahnsteig hinunter. Er sah ihr nach, wie sie das Tuch fester um ihre Schultern zog. Wie sie sich mit jemandem unterhielt. Weiterging.

Plötzlich stoppte. Umkehrte.

Hannes’ Herz machte einen Sprung. Dann sah er, wie sie den Krimi aus ihrer Tasche zog, ihn über einen Papierkorb hielt. Wie sie zögerte. Und ihn kurz entschlossen fallen ließ.

Hannes sprang auf, um seine falschen Opfer zu retten. Aber da schloss sich die Tür und die U-Bahn fuhr los. Er fluchte. Die Wette hatte er verloren. Und die Anschaffung eines E-Books würde er sich auf jeden Fall nochmal überlegen. Sonst würde er immer, wenn er das Ding in der Hand hatte, an seinen eben erlittenen Misserfolg denken. Und das musste nun wirklich nicht sein.
Gudrun Golch