Was taugt besser für einen Roman als die Wirklichkeit? Im August 2013 verhängt der Los Angeles County Superior Court eine Strafe von mindestens 27 Jahren für Christian Karl Gerhartsreiter, bekannt geworden unter seinem frei erfundenen Namen Clark Rockefeller, wegen eines Mordes, den er 1985 begangen hatte. Der amerikanische Schriftsteller und Journalist Walter Kirn ist 1998 durch eine Geschichte an Clark Rockefeller geraten, die zu erfinden er sich nicht hätte trauen dürfen. Eine strenggläubige Bankenerbin aus Montana bietet im Internet einen verkrüppelten Hund zur Adoption an. Der Hund ist inkontinent und vegetiert in einem spezialgefertigten Hunderollstuhl vor sich hin. Aus New York meldet sich Clark Rockefeller, er möchte das Tier adoptieren und gibt sich nebenbei als Spezialist für tiermedizinische Akupunktur zu erkennen. Er verspricht, den Hund aufzupäppeln, bis er fit sei für die Eichhörnchenjagd. Der mit der Hundebesitzerin befreundete Schriftsteller Walter Kirn – damals mitten in einer Lebenskrise und vielleicht auch wegen allerlei Aufputschmittel etwas durcheinander – erklärt sich bereit, den behinderten Vierbeiner mit seinem Pick-up von Montana nach New York zu fahren. Als er in New York endlich ankommt, trifft er auf einen Mann, der – wie Kirn findet – „auf Anhieb nervig“ ist, „ein putziger kleiner Hobbit, der sich selbst für so amüsant hielt, dass er etwas Wahnhaftes hatte“.

Alle seltsamen Marotten – der harte deutsche Akzent, das permanente Nichtbezahlen des angeblich schwerreichen Mannes – halten Walter Kirn nicht davon ab, dem Hochstapler auf den Leim zu gehen wie schon so viele vor ihm. Von da an beginnt zwischen den beiden Männern eine Freundschaft, die nur eine Richtung kennt – von Walter zu Clark. Zunächst das erste Essen im Sky Club des Met-Life-Hochhauses, von wo sogar die Skyline von Manhattan einen mickrigen Eindruck macht. Dann die Kunstsammlung in Rockefellers unscheinbarem Privat-Appartement: Rockefeller weist auf einen Blutfleck auf der Rückseite eines Gemäldes von Mark Rothko hin, Rothko hatte sich die Pulsadern aufgeschlitzt. Jean Luc-Picards Kommandosessel, den der Star Trek-Fan Rockefeller bei einer konspirativen Privatauktion erstanden haben will. Die vielen Freunde, die ihn angeblich auf seinem Landgut in New Hampshire besuchen: Britney Spears, „Du hast sie knapp verpasst“. Kanzler Kohl, „reist mit dem Auto an.“ Die über den Tisch geschobene Privatnummer des amerikanischen Präsidenten: „Hier“, sagt Rockefeller zu Kirn, „ruf George an“.

Das Ende der Männerfreundschaft kommt im Jahr 2013, als das Gericht in L. A. Clark Rockefeller wegen Mordes an John Sohus anklagt. Kirn reagiert wie eine betrogene Ehefrau: Er nimmt Rache an Rockefeller/Gerhartsreiter, der ihm nicht nur die Freundschaft geraubt hatte, sondern – was viel schlimmer ist – in Kirn die ewige Sucht nach Reichtum und Glamour, den uramerikanischen Traum, geweckt hat. Gerade er als Autor hätte genauer hinsehen müssen. Doch er hat alle Unstimmigkeiten nicht wahrhaben wollen, da er Rockefeller als Romanfutter sieht und ihn sogar dann noch bei seine Kollegen verteidigt, als die Aufdeckungen in der Presse schon die Runde machen.

Kern rächt sich mit den Mitteln der Schreibwerkzeuge, nicht mit einem Nudelholz. „Blut will reden. Eine wahre Geschichte von Mord und Maskerade“ heißt Walter Kirns Buch, das kürzlich bei C.H. Beck in München erschienen ist und das sich so spannend liest wie die besten Kriminalromane. Dabei ist es witzig und stimmt einen nachdenklich, da man ständig in sich hineinhorcht, ob man nicht auch so geblendet worden wäre.
Michael Berwanger