Von Jens Rohrer

Als ich im letzten Winter an einem kalten Schneetag unterwegs nach Hause war, lag da ein Meisen-Knödel am Boden. Da er auf dem Boden für jede Katze erreichbar war und somit jeder Vogel, der sich ihm näherte, in Gefahr, steckte ich ihn ein. Ich hatte nie auch nur daran gedacht, des Winters Tiere mit Nahrung zu versorgen, aber was konnte es schon schaden. In meiner Wohnung legte ich in Ermangelung eines Balkons den Knödel auf das Fensterbrett und fixierte ihn mit einer Reißzwecke. Bald ertappte ich mich dabei, wie ich einen Vogel beobachtete. Mein Lesesessel war auf das beknödelte Fenster gerichtet und einmal blickte ich von meinem Buch auf und sah einen Vogel dort landen. Und wenn ich schon mal hinsah, konnte ich auch die Gattung des gefiederten Gesellen herausfinden. Blaumeise wohl am ehesten. Als ich aber meinen Laptop zum genaueren Abgleich ans Fenster hielt, flog er davon. Ich blieb am Fenster stehen und wartete auf seine Rückkehr. Bald kam er wieder angeschwirrt, landete auf dem Blech, trippelte, trapste und hopste Richtung Futterquelle und pickte ein bisschen, bis er mein Gesicht hinter der Scheibe sah, erschrak und abermals flüchtete. Ich las weiter, bis ich wieder das Geräusch von Vogelkrallen auf dem Fensterbrett hörte. Wieder eine Choreographie aus Trippeln und Trapsen und Hopsen und er blieb auch, als ich mich der Scheibe näherte. Vielleicht hatte er sich schon an die Fratze hinter dem Glas gewöhnt, vielleicht war auch der Hunger stärker. Die Meise besuchte mich an dem Tag noch mehrmals. Woher ich weiß, dass es derselbe Vogel war? Ich glaubte schon bald, in dem Trippeltrapshopsen ein charakteristisches Muster zu erkennen. Anderntags stand ich mit meinem Morgenkaffee am Fenster, erblickte dieses Mal jedoch eine Amsel. Ich fragte mich, wo die Meise wohl abgeblieben war und wartete auf ihre Rückkehr. Zur Überbrückung beobachtete ich derweil die Amsel, die ebenfalls mehrmals davonflog, um dann wieder an das Büffet zurückzukehren. Auch der schwarzgefiederte Vogel trippelte erst, dann trapste er und dann kam auch das Hopsen. Derselbe Ablauf, den auch schon sein Vorgänger an den Tag gelegt hatte. Ich wunderte mich und dann dachte ich, dass der Vogel das ganz genauso machte und dass das vielleicht doch derselbe Vogel war, dass der sich verwandelt hatte, irgendwie, eine verzauberte Blaumeise, die als Amsel an den gewohnten Futterplatz zurückkehrte. Ich schmunzelte ob dieses Quatsch-Gedankens, spann ihn jedoch weiter. Was, wenn es an dem Futter lag. Ein Zauberknödel, ausgelegt von einem Hexer, der keine Meisen mochte, am Boden drapiert, um von einem ahnungslosen Spaziergänger mitgenommen und dargeboten zu werden. „Leben am Abgrund, er trotzt der Gefahr“, dachte ich grinsend, öffnete das Fenster, pfriemelte ein paar Körner aus dem Netz und warf sie mir keck in den Mund. Ich spülte das Futter mit dem Rest Kaffee herunter und machte mich auf den Weg zu meiner Arbeitsstelle. Ich saß schon ein paar Stunden im Büro, als ich einen starken Juckreiz am Kopf spürte. Als ich an der Stelle kratzte, bemerkte ich etwas hartes, etwas dünnes, mit einem Flaum daran. Es zuerst für eine Verfilzung haltend suchte ich die Toilette auf, bog die Haare beiseite und erblickte eine kleine, schwarze Feder. Ich zog leicht daran, sie schien mit der Kopfhaut verwachsen. Ich riss daran und schrie vor Schmerz auf. In meiner Hand hielt ich tatsächlich eine Feder. Ein bisschen Blut sickerte aus der schmerzenden und pochenden Stelle auf meinem Kopf. Ich tupfte ein bisschen mit Toilettenpapier und ging zurück an meinen Arbeitsplatz.

„Aber Dienstag ist doch Dönertag. Du willst wirklich keinen?“, reagierte mein Kollege besorgt, als die Mittagspause nahte. Ich hatte stattdessen seltsamerweise einen Heißhunger auf Müsli und besorgte mir jenes im nahen Supermarkt. Kopfschüttelnd biss mein Nachbar in seinen orientalischen Snack, während ich die Körner ohne Milch direkt aus der Packung futterte. Einmal schlug ich mir die Nase an der Tischplatte an, weil ich ein verbröseltes Körnchen aufpicken wollte. Langsam machte ich mir ernsthafte Sorgen. Auch das Jucken am Kopf kehrte zurück, dieses Mal gleich an mehreren Stellen. Abermals besah ich im Waschraum mein Haupt. Wie befürchtet glänzten jetzt gleich mehrere Federn im Licht der Neonröhren. Eingedenk der immer noch leicht nässenden Wunde von vorhin beschloss ich, den Bewuchs erst einmal zu vertuschen. In dem Abstellraum, in dem ungeliebte Werbegeschenke lagerten fand ich eine Baseballkappe mit dem Logo eines Zulieferers. Mein Kollege wunderte sich über meinen Kopfschmuck und sprach mich auch darauf an. „Bad Hair Day“, wollte ich eigentlich antworten, doch zu meinem Entsetzen kam aus meinem Mund nur ein Tschilpen. Ich sprang auf und wollte aus dem Raum rennen, jedoch schlüpfte ein Trapsen in meine Schrittfolge, das mich straucheln ließ, ich stolperte noch ein paar Schritte, trippelte mich zurück ins Gleichgewicht und kam hopsend zum Stillstand. Mein Chef kam auf mich zu und fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Ich tschilpte. Verzweifelt versuchte ich mich zu sammeln und dann klar zu artikulieren. Ich holte tief Luft. Ich öffnete den Mund. Ich tirilierte. Ich ließ ihn stehen, trippelte, trapste und hopste aus der Tür und machte mich panisch auf dem Heimweg. Ein bisschen Schlaf, dann ging es mir vielleicht besser, vielleicht träumte ich ja und musste nur aufwachen. Zum Glück widerstand ich ebenso dem übermenschlichen Drang, mich in der Straßenbahn auf eine der Stangen zu setzen wie dem Impuls, mein Geschäft auf dem Lack eines möglichst neuwertigen Autos zu verrichten. Mein Kopf schwirrte, als ich zu Hause ankam. Ich verputzte noch schnell den Meisenknödel auf dem Fensterbrett und trippelte wankend Richtung Bett.

Als Jens Rohrer eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einer ungeheuren Amsel verwandelt.

Veröffentlicht in: Der Dreiundvierzigjährige, der aus der Haustür trat und spazieren ging –
Kurzgeschichten, Bayerischer Poeten-& Belletristik Verlag