Eine Anthologie mit Geschichten über Aufbrüche und Ankünfte

Von Slávka Rude-Porubská

Die Somalierin Amal versengt sich in der Zugtoilette die Fingerkuppen, damit sich die Spuren ihrer Irrfahrt durch Europa nicht über ihre Fingerabdrücke verfolgen lassen. Für den jungen Politikwissenschaftler ist der Umzug von Manchester an die Universität im norwegischen Bergen die nächste Station seiner internationalen Karriere, schließlich genießt er Freizügigkeit mitten im prosperierenden, vernetzten Europa. Beide Lebensläufe haben Eingang in die Anthologie „Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen“ gefunden. Fridolin Schley erzählt von Amal, die sich von außen, von den europäischen Rändern – über die Ukraine, Slowakei und Österreich – dem sicheren München annähert. Ob sie wirklich dort ankommt? Ob sie wirklich der Gewalt der Terrormiliz in ihrem Heimatland entkommt, wenn sie ihr doch, in abgewandelter Form, an den Grenzübergängen und in Asyllagern begegnet? Georg Picot hingegen beschreibt den wiederholten, scheinbar mühelosen Arbeitsortwechsel als Wettbewerbsvorteil für akademische Nomaden innerhalb des globalen Wissenschaftsbetriebs.

Unterschiedlicher könnten Aufbrüche und Ankünfte nicht ausfallen. Und doch ist deren Gleichzeitigkeit die Realität des 21. Jahrhunderts. Und doch lassen sich auch Gemeinsamkeiten ausmachen; etwa die Tatsache, dass mit der physischen Ankunft am neuen Ort das Ankommen erst anfängt, dass die äußere Ankunft stets die zeitlich verzögerte soziale und seelische, innere Ankunft nach sich zieht. Diese ist nur möglich im Gespräch, im Erzählen, „das Nähe und Verbundenheit stiftet, aus Fremden Mitmenschen werden lässt“ – so schrei-ben es im Vorwort zu der Anthologie die Herausgeber*innen Katja Huber, Silke Kleemann und Fridolin Schley. Das Trio initiierte die Münchner Veranstaltungsreihe „Meet your neighbours“ und organisierte 2018 in der Monacensia das Festival „Acht Mal ankommen“, auf das die Textauswahl zurückgeht. Sie überzeugt mit ihrer programmatischen Heterogenität, indem sie insgesamt 38 Gedichte und Geschichten von neu nach Deutschland gekommenen und „einheimischen“ Autor*innen nebeneinander stellt. So gelingt es, das Phänomen des Ankommens im Plural zu denken und diverse Ankunftsszenarien literarisch zu entwickeln.

Da sind die Ankünfte der vor den Kriegen und Krisen Geflohenen, etwa des syrischen Dichters Fady Jomar. Sie bringen Erfahrungen von Heimatlosigkeit, Verlust und Entwurzelung mit, in ihren „Koffern stecken Gesichter/Salz, Geduld und verworrene Stimmen/Gedränge, Geschichten und Menschen.“ Da sind die Ankünfte der politisch Verfolgten, die unangenehme, bohrende Fragen stellen, wie die Journalistin Banu Acun: „Es gibt wirklich Dinge, die ich nicht verstehe. In der anti-demokratischen Türkei gibt es staatliche Fernsehsender, die auf Kurdisch und Arabisch senden. Warum gibt es nichts Vergleichbares in Deutschland?“ Und es sind auch die Ankünfte in der Weltwahrnehmung Einheimischer. So hinterfragt Annika Reich die eigene privilegierte Position als Bürgerin Europas: „Die Flucht und Vertreibung sind eine Möglichkeit meines Lebens – so wie Angekommensein und Sicherheit eine Möglichkeit des Lebens von Menschen sind, die hierher fliehen.“

Der Textband versteht sich als Statement „für eine offene, humane Gesellschaft“ und als Dokumentation eines künstlerischen Integrationsprojekts. Bleibt bei solchen Aufgaben der literarische Anspruch nicht auf der Strecke? Keineswegs – dieser klug komponierten, facettenreichen Anthologie ist ein gutes Ankommen beim Lesepublikum zu wünschen!

Katja Huber, Silke Kleemann und Fridolin Schley (Hg.)
Wir sind hier
Geschichten über das Ankommen
Klappenbroschur, 224 Seiten
Allitera Verlag München
(edition monacensia) 2018
16,90 Euro