Von Philipp Stoll

Sehr geehrte Frau Schulze,

ich schreibe Ihnen, weil der Anrufbeantworter ihres Geschäftstelefons keinen Speicherplatz mehr hat und mir nach dem Signalton nicht einmal Zeit blieb, Luft zu holen. Vermutlich rufen ständig Kunden an, um einen Termin zu vereinbaren, jetzt, da es wieder erlaubt ist. Auch ich gehöre zu denen, die dringend Ihrer Dienste bedürfen. Die Blicke meiner Frau werden von Tag zu Tag entnervter. Du schaust unmöglich aus, hat sie heute Morgen in ihrer Ehrlichkeit gesagt. Wie ein Schimpanse mit silbrig-brauner Mähne, greisenhaft verblödet und am Abend zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich finde Ehrlichkeit bei anderen Menschen nicht immer eine gute Eigenschaft. Die Details aus unserem Intimleben erspare ich Ihnen. Aber Sie sehen, meine Würde droht gänzlich zu verstrubbeln, und ich bitte Sie dringend um Wiederherstellung derselben.

Als Stammgast seit mehr als zehn Jahren habe ich erwogen, bei Ihnen um einen Hausbesuch anzufragen. Sie könnten Ihre drei Kinder unter vierzehn Jahren mitbringen, denn die zählen ja bei den Kontaktbeschränkungen nicht. Aber meine Frau hat gemeint, die kommt mir nicht ins Haus. Ich verstehe gar nicht, was sie hat. Ich habe bisher nur in höchsten Tönen von Ihrem freundlichen Wesen berichtet, einschließlich Ihres überaus ansprechenden Äußeren. Diese Möglichkeit scheidet also aus.

Einfach rasch bei Ihnen vorbeischauen, um einen Termin auszumachen, habe ich auch verworfen. Ich möchte Sie nicht bei der Arbeit stören; die Würde ist bei mancher Person eine komplizierte Angelegenheit und bedarf der ungestörten Konzentration auf den präzisen Schnitt ihrer geschickten Meisterhände.

Wir sind derzeit von Verboten umzingelt und immer öfter verliere ich den Überblick. Vor jeder Bewegung halte ich inne und sehe im Netz nach, ob Paragraph vier Absatz drei Satz sieben nicht inzwischen geändert worden ist. Bisher hatte ich Glück: Man muss in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Supermärkten sein Haupthaar noch nicht mit einer sterilen Haube bedecken. Haben Sie auch schon gehört, dass nach einer neuen wissenschaftlichen Untersuchung die mit einem feinen Film natürlichen Körperfetts bedeckte Oberfläche eines Kopfhaares ideale Nistbedingungen für Viren bietet? Jaja, das haben die festgestellt. Diese fiesen kleinen Dinger können dort mehrere Monate überleben. Aber möglicherweise ist das eine von der Shampoo-Industrie gesponserte Pseudostudie. Man weiß es nicht. Heutzutage weiß man eigentlich gar nichts. Man riecht nichts, man sieht nichts und muss dem glauben, was andere sagen. Die einen sagen so, die anderen sagen: nein, ganz anders, und dann irrt man im Nebel umher und verläuft sich ständig. Unterdessen wachsen die Haare natürlich unbeeindruckt weiter. Sollte diese Studie Recht haben, dann droht nach der Maskenpflicht die Haubenpflicht.

Nach der Pleite mit den Masken habe ich mir deshalb vorsichtshalber Haarhauben bestellt. Sie sind derzeit noch sehr günstig und in ausreichender Zahl vorhanden, ich habe einen Tausenderpack genommen. Wer weiß, vielleicht ist das gut angelegtes Geld, wenn erst die Tragepflicht kommt und man feststellt, dass es viel zu wenig Hauben gibt. Dann werden die Preise explodieren. Man wird ja noch ein bisschen nebenbei kassieren dürfen.

Aber liebe Frau Schulze, Sie sollen keinen falschen Eindruck von mir bekommen: Ums Geld geht’s mir nicht. Ich bin gerne bereit, für einfaches Haareschneiden den Preis einer Dauerwelle zu bezahlen. Bei mir ist es mittlerweile wirklich dringend geworden. Mein letzter Termin wäre an dem Tag gewesen, an dem Sie Ihren Laden zugemacht haben. Mir hängen die Strähnen inzwischen bis zu den Mundwinkeln. Gestern hat mein Chef mich bei Beginn der Videokonferenz mit der Kollegin Edlinger verwechselt. Das war mir ziemlich peinlich. Die Edlinger hat wirklich eine verheerende Frisur. Ich würde sagen, die schaut aus wie ein Pavian, der versehentlich statt Haarspray die Dose mit mattem Transparentlack erwischt hat.

Ich selbst verwechsle inzwischen am Esstisch bisweilen Haare mit Speise, was erstens schmerzhaft ist, zweitens unappetitliche Folgen haben kann.

Jetzt habe ich sogar erwogen, Sie um einen Sonntagstermin zu bitten, habe aber wieder Abstand davon genommen. Das möchte ich Ihnen nicht zumuten. Außerdem würde das meine Frau noch argwöhnischer machen. Eine letzte Idee: Sollte es über diese Sache zu einem endgültigen Zerwürfnis mit meiner Ehefrau kommen, würde ich als erstes Ihnen einen Antrag machen. Ich weiß, Sie sind derzeit ungebunden. Und mit Ihrem großen Salon finanziell unabhängig.

Ach wissen Sie, liebe Frau Schulze, je länger ich mich nun damit beschäftige, desto eher sehe ich Vorteile, Ihnen einen solchen Antrag baldmöglichst zu machen. Darf ich Sie also um einen Termin hierzu bitten? Corona hat uns doch alle gelehrt, entschlossen zu handeln. Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt! Jedes Zögern wäre fatal! Zu diesem Zweck könnte man auch einen Sonntag wählen. Gerne in Ihrem Salon! Sie nehmen in einem der Sessel Platz, ich gehe vor Ihnen auf die Knie. Es wird sehr romantisch werden. Und würdevoll. Sollten Sie trotz allem zweifeln, gebe ich zu bedenken, dass Sie sich über jeglichen Wildwuchs auf meinem Kopf (und sonstwo) ja niemals aufregen müssten. Sie könnten ihn fachgerecht beseitigen. Ich würde Ihnen in allem, wirklich in allem, freie Hand geben.

Ergebenst, Ihr treuer Kunde P. Lost