Der Nachlass Grete Weils in der Monacensia

Von Katrin Diehl

Eines der „Objekte“, das zu dem in der Monacensia aufbewahrten Nachlass der Schriftstellerin Grete Weil (1906-1999) gehört, schiebt die wunderbaren Jahre, die sie hatte, weit, weit weg, die „unglaublich glückliche“ Kinderzeit, das viele Spielzeug, die lieben Menschen, die Tage in Egern am Tegernsee… „Ein Ort, in dem man zu Hause ist, wirklich zu Hause, auch dann noch, als über dem Ortsschild ein Transparent mit der Aufschrift hängt: ‚Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr‘ “, schrieb Grete Weil 1998 in ihrer Autobiografie „Leb ich denn, wenn andere leben“. Wolken zogen da auf, aber schön war es immer noch. Auch in der Stadt, in München, in der herzeigbaren Stadtvilla. Der Herr Vater, Siegfried Dispeker, ein angesehener „Geheimer Justizrat“, und seine Frau Bella empfingen gerne Gäste und auch der elf Jahre ältere Bruder Fritz war durchaus präsentabel, ein Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs mit Verdiensten. Der Grete geht es so richtig gut. „Ich war wahnsinnig verwöhnt. Ich brauchte nichts zu tun, brauchte nur da zu sein, wurde geliebt“, sollte sie später einmal sagen.

Ein wenig erwachsener, gehört sie natürlich zum Freundeskreis der Geschwister Erika und Klaus Mann. Grete entdeckt ihre Liebe zu den Bergen, läuft gerne Schi. In den Deutschen Alpenverein darf sie nicht. Sie ist ja Jüdin. Grete Weil studiert Germanistik, auch an der Pariser Sorbonne, engagiert sich in linken Studentenkreisen und macht in München eine „fotografische Lehre“. Mit ihrer Kamera weiß sie gut umzugehen, lichtet große Köpfe ab. Aus dem Jahr 1938 stammt die „Porträtfotografie“ Grete Weils von Franz Werfel. Man kennt diese Aufnahme, die stechenden Augen des Schriftstellers hinter der Nickelbrille. Ein Jahr später fotografiert sie sich selbst, schön und gekonnt. Auf der Rückseite des Bildes steht vermerkt: „Amsterdam 1939, Selbstfoto“.

1932 heiratete Grete Edgar Weil, Dramaturg auch an den Münchner Kammerspielen. Edgar wird Deutschland bald verlassen, wird nach Holland gehen. Grete wird nachkommen.

Verstehen lässt sich das „Objekt“ nur oberflächlich, nur entlang der historischen Fakten. Wirken tut es tiefer. Es ist eine graue, grobe Stoffbinde. Wie fühlt sie sich an? Hat sie einen Geruch? Entdeckt man eine kleine Kleinigkeit, von der man meint, kein anderer hätte je auf sie geachtet? Die Monacensia ist noch immer geschlossen. Die Armbinde lässt sich im Moment nur am Bildschirm betrachten. Auf dem Sackstoffstreifen finden sich mittig, tief schwarz und groß, die beiden Buchstaben JR. Sie stehen für Joodischer Raad, Jüdischer Rat. Bei ihm war Grete Weil 1942/43 als „Porträtfotografin“ „angestellt“. An einem Rand des verlebten Stoffes steckt eine kleine Sicherheitsnadel. Mit der muss Grete Weil das Band als Binde um ihren Arm geschlossen haben.

1935 war sie ihrem Mann nach Amsterdam gefolgt, führt dort zunächst ein Fotostudio. Dann taucht sie unter, nimmt Kontakt auf zum niederländischen Widerstand. Anderthalb Jahre lebt sie in der Prinsengracht, versteckt in einer Wohnung hinter einem Bücherregal, beginnt dort zu schreiben, einen Roman, den sie nie veröffentlicht haben will. In „Der Weg zur Grenze“ verarbeitet sie die Deportation eines Mannes, ihres Mannes, der auf offener Straße festgenommen und am 17. September 1941 im Mauthausen ermordet worden war. Das Typoskript liegt in der Monacensia, wie auch, datiert auf den 31. August 1941, der letzte Brief Edgar Weils an Grete. Er ist mehrseitig. An die erste Seite sind Anweisungen des „Konzentrationslagers Mauthausen“ angeheftet.

Der Krieg ist noch nicht lange vorbei, da schreibt Grete Weil von Amsterdam aus mit zackiger, hochaufgeschossener Schrift einen Brief an den Schriftsteller Bruno Frank, berichtet darin von der „unvorstellbaren Zeit“, erzählt, dass sie ihren Mann Edgar verloren hat. Über zehn Jahre später heiratet sie wieder. Walter Jokisch ist ein Freund aus Jugendtagend. 1947 hatte Grete ihn auf einer Postkarte angefleht: „Schreib, bitte, bitte schreib.“

1974 kehrt sie zurück nach Deutschland, zieht nach Grünwald. Ihr literarischer Durchbruch steht noch bevor. 1980 schafft sie ihn mit dem Roman „Meine Schwester Antigone“. „Der späte Erfolg tut gut. Der späte Erfolg tut weh“, kommentierte sie einmal ihre verzögerte Beachtung. 1983 folgt der Roman „Generationen“ , 1988 „Der Brautpreis“. Mitte der achtziger Jahre las sie – und jeder, der da dabei war, wird sich erinnern – in der vollbesetzten „Literaturhandlung“, damals noch in der Fürstenstraße. Es war sehr eng und es war sehr besonders, dieser feinen, älteren Dame zuzuhören.

Das Grab Grete Weils befindet sich auf dem „Neuen Gemeindefriedhof Rottach-Egern“. Egern. Der einst schönste Ort der Erde.