Sechs Zimmer – das war, siebenköpfige Familie her oder hin, in den ersten Jahren nach dem Krieg zu üppig, befand das Gemeindeamt. Drei davon wurden beschlagnahmt und Leuten zugewiesen, die der Flüchtlingsstrom in unser kleines Dorf geschwemmt hatte. Einquartierung hieß das neue Wort. Das hatte ich noch nie gehört, und ich sagte es viele Male vor mich hin. EINKWATIERUNG. Es klang so schön nach Sommerabend mit Froschkonzert, aber in Wirklichkeit bedeutete es, dass wir zusammenrücken mussten, weil fremde Leute in unsere Wohnung kamen. In die beiden Räume zum Hof zog Frau Helferich mit ihrer kleinen Tochter Verena, das große Kinderzimmer mit Blick zum See und in den Park besetzte Frau Singer. Meine Großmutter blieb in ihrem Zimmer, meine Mutter schlug für sich und meine beiden ältesten Geschwister im Wohnzimmer Schlafplätze auf, ins kleine Kinderzimmer, wo mein jüngster Bruder und ich schliefen, wurde ein drittes Bett für meinen mittleren Bruder geschoben.

Mir machte das nichts aus, ich fand unser Zimmer jetzt viel spannender. Wir spielten die Höhlenkinder im heimlichen Grund, bauten uns Höhlen aus Decken und Kissen und besuchten uns gegenseitig. Das war eine regelrechte Expedition, denn zuerst musste man einen Fluss überqueren und dann auf dem Bauch durch einen langen dunklen Gang kriechen. Am schönsten war natürlich die Bergbesteigung. Auf der einen Seite mit Schwung hinauf, auf der anderen ein kühner Sprung hinunter aufs Bett, dass die Sprungfedern ächzten. Wir fanden das äußerst lustig und wollten es immer wieder tun. Aber draußen lagen die wilden Bären auf der Lauer, sie stürzten plötzlich herein mit schrecklichem Gebrumm und Tatzenhieben, zerstörten unsere Höhlen, wickelten uns ganz fest in die Decken und drohten, wenn wir uns unterstanden, noch einmal auf den Schrank zu klettern, würde das böse enden.

Woher Frau Helferich kam war ungewiss. Im Gegensatz zu Frau Singer, die durch ihren Akzent zu erkennen gab, dass sie aus Russland stammte. Frau Helferich lief auch tagsüber im Bademantel herum, mit einer Zigarette in der Hand, und brauchte immer eines von uns Kindern, das sie zum Besorgen schickte. Wie eine Eidechse glitt sie aus ihrem Zimmer und raunte demjenigen, der gerade vorbeikam, ihre Wünsche zu. Wir liefen gerne für sie zum Bäcker, zum Kramerladen, zum Zeitungskiosk, denn meistens durften wir die Wechselgroschen behalten. Das Bestechungsgeld der Mutter hielt uns nicht davon ab, die Tochter zu ärgern. Verena war ein farbloses, mageres, quengeliges Dingelchen, das sofort zu heulen begann, wenn wir es nur antupften. Natürlich verpetzte sie uns bei ihrer Mutter, aber das half nur kurzzeitig, denn diese wollte es sich mit uns nicht verscherzen.

Wenn Frau Helferich Besuch von ihrem Freund bekam, verwandelte sich das schlampige Bademantelentchen in einen Schwan. Das blonde Haar mit Kämmen und Spangen zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt, die Lippen brennend rot geschminkt, Seidenstrümpfe mit geraden Nähten, die Schuhe hochhackig, stöckelte sie am Arm von Herrn Scaria von dannen. Herr Scaria war das, was man einen gutaussehenden Mann nennt, groß schlank, elegant gekleidet und äußerst höflich. Er pflegte meine Mutter mit Handkuss und Gnädige Frau zu begrüßen, was ihr nicht unangenehm war. Später sagte sie zu meiner Großmutter, dass er ein Schieber sei, aber einer mit Manieren. Dabei lachte sie merkwürdig und schob die Stange Zigaretten und das Päckchen Kaffee auf dem Tisch hin und her.

Mit Frau Singer hielt die Literatur Einzug in unsere Wohnung. Eines Tages hing ein Zettel an unserer Haustür, darauf stand SALONABEND. Das war wieder so ein neues Wort, und ich stieg damit die Treppe hinauf, auf jeder Stufe eine Silbe. SA-LO-NA-BEND. SA-LO-NA-BEND. Frau Singer, erklärte mir meine Mutter, ist Übersetzerin und Rezitatorin. Sie liest Gedichte vor und Geschichten, und die Leute kommen und hören ihr zu. Das nennt man einen Salonabend. Dazu wurden aus allen Räumen sämtliche Sitzmöbel in ihr Zimmer getragen, Großmutter schlang sich die Goldkette um den Hals und hüllte sich in ihre weiße Seidenstola, und meine Mutter zog ein dunkelblaues Wollkleid an mit einem weißen Krägelchen und weißen Manschetten. Wir bekamen unser Abendbrot in der Küche und mussten früher als sonst schlafen gehen. Wenn die Besucher eintrudelten, lagen wir schon im Bett und hörten, wie das Stimmengewirr immer mehr anschwoll, um schließlich auf einen Schlag zu verstummen und einer Stimme Raum zu lassen. Sie begann mit langsamen, weit ausholenden Bewegungen, drehte und wendete sich, tanzte auf und nieder, schwenkte blaue Bänder hinter sich her, stieg höher und höher, mitreißend, vehement, sie zog mich in ihren Bann, ver-zauberte mich, und ich malte mir aus, wie die Stimme aussah, wie eine Fee auf der Mondwiese – aber nie erlebte ich das Ende, jedes Mal wurde ich wie im Märchen vom Schlaf übermannt.

Am anderen Morgen habe ich mir Frau Singer genau angeschaut. Aber sie sah so aus wie immer, eine kleine, etwas bucklige Frau mit grauen, zu einem festen Knoten hoch gezwirbelten Haaren, einem strengen Gesicht und einer energischen harten Stimme, vor der ich mich stets ein wenig fürchtete.
Katrina Behrend