Was könnte schöner sein als dieser Tag? Der auf dir lastet mit seiner unausgesprochenen Drohung, dass sie dich rauswerfen werden, wenn du so weitermachst. Dass du in deinem verwirrten, stotternden Zustand auf Dauer nicht tragbar bist. Unzureichende Leistung, die Menge an zusätzlichen Korrekturläufen und dann die Kollegen, die sich fragen, was plötzlich mit dir los ist. Deine Ängste kriechen auf einmal aus allen
Löchern und sie bestätigen sich alle. Du hattest also vollkommen Recht. Und das von Anfang an. Und nun balancierst du wieder einmal auf dem Millimeter-Bruchteil einer Papierkante. Luft. Dann ein gepflegter Zusammenbruch auf dem Klo. Und gleichzeitig das Gefühl, dass es jetzt, wo es zum Schlimmsten kommen könnte, endlich auch gut wird. Dein vollkommenes Gleichgewicht. Im freien Fall.

Das ist die Stille, in einer leeren Coladose genauso zu finden wie in einer Kathedrale. Du betrittst einen Tempel.
Eine Altarreihe aus Edelstahl. Die Schlangen der Wartenden. Die Tempeldiener allesamt in der gleichen Uniform, manche freundlich, manche verkniffen. Dein Schnellmenü mit extra viel Schokosoße auf dem Eis bekommst du aus den Händen einer vielarmigen, vollautomatisierten Göttin: Mc Donalds, Burger King. So dass du dich gleich in einer salzigen Umarmung mit deinen Pommes verlieren darfst. Um dich herum wild pubertierende Kinder, Mütter mit vernagelten Gesichtern. Bunte Farbe an den Fingernägeln. Da wo das Herz endgültig in seiner Schale aus hartem Horn verschwindet. Der letzte Sonnenuntergang (wahrscheinlich Teneriffa), ein schlechtes Makeup auf blasser Haut.
Allesamt Restbestände, zu denen du genauso gehörst wie der Mann dir gegenüber. Er isst systematisch alles, was vor ihm auf dem Tisch steht. Stück für Stück, Bissen um Bissen. So als würde er Gepäck in einem Kofferraum verstauen.

Du isst deine Pommes, die Hühnchenknollen, du isst die Enge der Angst, die sich in das Fleisch eingebrannt hat. Du schmeckst darin deine eigene Angst, die so eng verwandt ist mit der eines Masthuhns. Da ist kaum ein Unterschied, und du isst die Angst wie einen Talisman, voller Andacht. Nur wenig später kannst du es sehen: du bist überwältigt von der Fülle, von der Schönheit um dich herum: Die Müllberge auf den Tischen, Reste von Salz an deinen Fingern, Gesichter zerknüllt wie Papierservietten nach dem Essen.

Welche Botschaften hinterlassen sie alle auf den Plastik-Tabletts, wenn sie verwüstet sind nach einem viel zu kurzen Ess-Anfall? Denn die Linderung dauert nur kurz. Spätestens auf dem Weg zum Müllschlucker holt es dich ein: Das dicke Kind, immer nackt, immer bedürftig, immer weint es viel zu laut. Und unerfreulich schweineähnlich sein Gesicht unter der Glasur aus Tränen und Rotz. Es ist seltsam, dass nur du es sehen kannst. Dieses Kind versucht jetzt deine Hand in seine heiße, verschwitzte Hand zu zwingen. Aber du bist schneller. Ätsch Kind, und du bist schon fast weg, wenn es noch tränenblind und auf seinen dicken, weichen Beinen versucht dir hinterher zu rennen. Du hörst nur, wie der Synthetikstoff seiner Hosenbeine gegeneinander reibt, wenn es rennt. Es hat diese Freizeithosen an, die an ihm aussehen wie an einem alten, fetten Mann. Das Kind versucht zu rennen. Es ist ein Geräusch der Hoffnungslosigkeit, erinnert dich an viele vergebliche Versuche, ein Streichholz an der seitlichen Schmirgelfläche einer Streichholzschachtel zu entzünden. Und gegen deinen Willen fängst du fast an das Kind zu mögen. Für seine Hingabe, Beharrlichkeit. Für das blinde Vertrauen, das es dir entgegenbringt. Einfach so. Auf einmal ist es weg.

Du vermisst sein kompaktes Hitzefeld, sein kurzatmiges Schnaufen und Gejammer. Dir wird klar, dass du es nie berührt hast, dass du nie überprüft hast, ob sich seine Hände tatsächlich heiß und feucht anfühlen. Und klebrig. Das Klebrige kommt ganz sicher von der Verzweiflung. Damit kennst du dich aus. Du legst deine Hände ineinander, die Handflächen kleben. Zu spät. Du hast dich bei dem Kind angesteckt. Als du wieder aufsiehst, ist es weg. Die klaffenden, leeren und zusammengestauchten Pappschachteln. Ketchupverschmiert die papierene Unterlage auf dem Tablett. Jeder schreibt dort den Code seines Alleinseins hinein. Du bist genau richtig hier. Wo sollte es sich sonst offenbaren, wenn nicht hier an diesem voll beladenen Müllschlucker? Für den Bruchteil einer Sekunde spürst du, wie vollkommen die Ordnung dieser verrückten Welt ist. Spürst die Schönheit dieses Tages; zerkratzt, außer Balance, das Licht in unendlichen Facetten spiegelnd. Sobald das emsige Kauen der Beißwerkzeuge deiner Logik, deines kleinen getriebenen Verstands verstummt ist, ist da diese Weite. Die dich so leicht macht, dass du dich fast zu den blökenden Jungs weiter vorne stellen würdest, ohne Angst. Das grelle Licht von oben, das den Leuten harte Schlitze in die Haut ritzt. Ohrenbetäubendes Gequatsche von allen Seiten. Der Geruch von lauwarmem Fett. Den du nun immer an dein eigenes Versagen koppeln wirst. Und an etwas anderes. Hängt in der Luft, wolkig, federnd, voll unhaltbarer Versprechungen. Und da ist es klar, dass du draußen vor den Glastüren wartest, bis das Kind endlich angetrottet kommt, müde, verschwitzt und überfressen. Du nimmst seine Hand – die klebrige Verzweiflung überrascht dich nicht mehr – und sagst, komm, lass uns nach Hause gehen.

Julia Wörle