Das Westjordanland liegt eingeklemmt zwischen Israel im Westen und Jordanien im Osten. Im Sechstagekrieg 1967 wurde es von Israel erobert und steht seither unter israelischer Militärverwaltung, seit 1993 werden Teile
des Westjordanlands von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) verwaltet. 83 Prozent der Bevölkerung sind Palästinenser, 16 Prozent Juden, dazu noch eine Hand voll Christen. Seit dem Teilungsplan der UN-Vollversammlung aus dem Jahr 1947 ringt Palästina um seine staatliche Souveränität. Das Land wurde wechselweise von Jordanien und Israel annektiert, ist von einer sogenannten Grünen Linie begrenzt und wird faktisch von einem Sperrwall abgetrennt, der doppelt so lang ist, wie die eigentliche Landesgrenze. Bei den unzähligen, teilweise kriegerischen Auseinandersetzungen haben die meisten Menschen unserer Herkunft längst den Überblick über die politischen Zusammenhänge verloren.

So erging es auch der Münchner Journalistin Agnes Fazekas, als sie 2015 nach Israel übersiedelte, nachdem sie sich zwei Jahre zuvor bei einer Journalistenreise in das Land und einen seiner Bewohner verliebt hatte. Als Ethnologin und Kommunikationswissenschaftlerin hatte sie die Probleme des Nahen Ostens – wie die meisten von uns – nur am Rande wahrgenommen. Nun wollte sie den Fragen nach nationaler Identität und Zugehörigkeit in einer Region nachgehen, die wie keine zweite zum Symbol internationaler Interventionspolitik geworden ist.
Also begab sie sich auf zahlreiche Exkursionen kreuz und quer durch die Westbank und hielt ihre Erlebnisse und
Begegnungen in dem Erzählband Insel ohne Wasser, Vogel ohne Flügel fest.

In 27 Kapiteln schafft sie einen Kosmos aus Zugehörigkeiten und Fremdsein, Heimatgefühl und Abstand. Dabei hat sie die Neugierde ebenso angetrieben, wie die Möglichkeit, sich als westliche Ausländerin in allen Teilen der Westbank frei bewegen zu können. Aber sie wählte nicht den einfachen Weg mit dem subventionierten Siedlerbus, sondern benutzte die Verkehrsmittel, die auch die Palästinenser nehmen müssen, die doppelt so lange brauchen und doppelt so viel kosten – mit dem Egged-Bus nach Jerusalem, dort mit der Straßenbahn zum arabischen Busbahnhof, dann weiter nach Bethlehem oder Ramallah und von dort mit den servees, den Sammeltaxis, durchs Land. Um Geld zu sparen und den Menschen näher zu kommen hat sie meist als Couchsurferin privat bei den Einheimischen übernachtet, oft in qualvoll engen Quartieren.

Und so erzählt die Autorin vom kitschüberfluteten Weihnachtsfest in Bethlehem, das für ortsansässige Christen so anheimelnd ist wie für uns das Oktoberfest. Sie nimmt uns mit zu Eitan, einem Israelischen Militäroffizier, der in Gush Etzion (bei Jerusalem) Schulklassen die vermeintliche Notwendigkeit israelischer Wehrbereitschaft vorführt – und im Gegenzug nach Bil’in, nahe Ramallah, zur wöchentlich stattfindenden palästinensischen Freitagsdemo, einer Mischung aus Letztem Aufgebot und Touristenattraktion für westliche Backpacker. Sie führt uns in eines der verbliebenen Hammams in Nablus, um ihre Sehnsucht nach weiblichem Kontakt zu stillen. Frauen sind in der Öffentlichkeit Palästinas sonst kaum anzutreffen. Und sie zeigt uns eine Boeing 707, die in der Nähe des Berges Ebal bei Nablus flügellos in der steinigen Wüste liegt. Die Zwillingsbrüder Al-Seirafi träumen davon, den Flugzeugrumpf auf einen der Hügel bei Nablus zu platzieren und als Restaurant zum neuen Wahrzeichen der Stadt werden zu lassen. Es fehlen halt noch die Genehmigung und etwa eine Million Dollar Starthilfe.

Bei allen Geschichten ist die Wärme zu spüren, mit der Agnes Fazekas den Menschen begegnet. Mit fast kindlicher Neugier wandelt sie durch das geschundene Land und lässt durchblicken, dass sie weder mit der Siedlungspolitik Israels noch mit dem Machismo der Palästinenser einverstanden ist. Und in ihrer Suche spiegeln sich unsere und ihre
eigenen Vorurteile gegen diesen zerrütteten Landstrich.
Michael Berwanger

Agnes Fazekas
Insel ohne Wasser, Vogel ohne Flügel
Im Zickzack durch das Westjordanland, 340 Seiten
DuMont Reiseverlag, Ostfildern 2015
14,99 Euro