Von Michael Berwanger

Ein Privat-Sanatorium irgendwo in Bayern, luxuriös gelegen an einem kleinen See im Dezember der Jetztzeit. Der knapp 70jährige Psychotherapeut Hans Sahlfeldt begibt sich dort in die Obhut seines sieben Jahre älteren Kollegen Tiefenbach – ein Analytiker und Freudianer – vermeintlich, um sich wegen einer Depression behandeln zu lassen. Doch in Wahrheit will er ihm ein dreißig Jahre altes Gutachten vorhalten, das zu einem juristischen Fehlurteil geführt hatte, in dem ein Lehrer, ein Pfarrer und ein Hausmeister der gemeinsamen Kinderschändung an einer Schutzbefohlenen bezichtigt worden waren und das niedergeschlagen wurde.

In die idyllische Beschreibung der Sanatoriumswelt, die zwangsläufig an Thomas Manns „Zauberberg“ denken lässt, sind in Rückblenden die Geschichten des Familientherapeuten Hans Sahlfeldt und des Vergewaltigungsopfers Lenja Markoff eingespiegelt. Lenja war nach Jahren künstlerischer Arbeit in New York in ihre Heimatstadt zurückgekehrt (das wiederum lässt eher an Dürrenmatts „Besuch einer alten Dame“ und deren Rachefeldzug denken) und sucht therapeutische Unterstützung bei Sahlfeldt: Ihre Tochter hatte mit acht Jahren aufgehört zu sprechen. Sahlfeldt findet sehr schnell heraus, dass das Schweigen der Tochter mit Problemen der Mutter zu tun hat, als diese acht Jahre alt war. Und er verliebt sich in die schöne und verstörende Künstlerin.

Der Protagonist verliebt sich nicht nur in seine Patientin, sondern möchte nachträglich eine Schuld für sie abtragen. Der Kollege Tiefenbach wird als unfähiger Greis gezeichnet und – zu allem Überfluss – ist Sahlfeldt auch noch der Sohn des Staatsanwalts, der den Vergewaltigungsfall, um den sich der Romanplot spinnt, zu Gunsten der Honoratioren der Stadt hat fallen lassen.

Der Autor Gert Heidenreich, der 1944 in Eberswalde geboren wurde und in München Germanistik, Soziologie, Philosophie und Theaterwissenschaften studierte, hat in dieser Geschichte nichts an Klischees ausgelassen, was man irgendwie, irgendwo schon mal über Fälle von Kindsmissbrauch gelesen oder gehört hat. Teilweise ist das durchaus spannend geschrieben, die Landschaftsbilder sind gelungen und die Personen plastisch. Aber alles wirkt sehr konstruiert, zusammenrecherchiert und angeeignet. Und am Schluss weiß man einfach nicht, was wollte uns der Autor damit sagen.

Gert Heidenreich
Schweigekind
Roman, 202 Seiten, gebunden
Transit Buchverlag, Berlin 2018
20 Euro