Carl Amerys Nachlass in der Monacensia

Von Michael Berwanger

Wer sich das äußerst arbeitssame und vielschichtige Leben Carl Amerys vor Augen führt, wird es vollkommen sinnrichtig finden, dass sein Nachlass heute zu neunzig Prozent in der Monacensia liegt. Das Literaturarchiv, das zur Münchner Stadtbibliothek gehört, war schon zu Lebzeiten Amerys in den Besitz großer Teile des Vorlasses gekommen. Schließlich war Carl Amery von 1967 bis 1971 Direktor der Münchner Stadtbibliothek; nicht gerade ein selbstverständlicher Job für einen Literaturtheoretiker und Schriftsteller. 

Aber Amery war ja nicht nur Literaturtheoretiker, Schriftsteller und Bibliotheksdirektor, sondern auch Stipendiat am Maximilianeum, Kriegsteilnehmer und Prisoner of War, Neuphilologe, Mitglied der Gruppe 47 und streitbarer Verfasser von Satiren, Präsident des PEN, Vorsitzender des Verbands Deutscher Schriftsteller, zeitweise aktives Mitglied der SPD, Mitbegründer der Grünen, Gründer und langjähriger Präsident der E.-F.-Schumacher-Gesellschaft, Vordenker der politischen Ökologie und Autor von historischen Romanen sowie Streitschriften gegen rechte Ideologien.

Christian Anton Mayer – Amery war ein Anagramm seines bürgerlichen Namens – kam 1922 in München zur Welt, wuchs aber hauptsächlich in Passau und Freising auf, was sich später in vielen seiner Schriften spiegelte, etwa in den Romanen „Der Untergang der Stadt Passau“ und „Das Geheimnnis der Krypta“. Als Einser-Abiturient konnte er am Maximilianeum Neuphilologie und Literaturtheorie studieren, unterbrochen durch Kriegsteilnahme und -gefangenschaft. In der Nachkriegszeit wurde er innerhalb der Gruppe 47 durch seine Romane „Der Wettbewerb“ und „Die große Deutsche Tour – Abrechnungen mit der NS-Zeit“ – den Satirikern zugerechnet, was lange sein Markenzeichen blieb.

Erst in den 60er Jahren wurde er zu dem Vordenker der Ökologiebewegung, als der er heute noch hauptsächlich wahrgenommen wird – mit kirchenkritischen Schriften wie „Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute“, „Das Ende der Vorsehung“ und „Die gnadenlosen Folgen des Christentums“, in denen er der Katholischen Kirche eine Mitschuld an der Umweltzerstörung zuweist. Nach seiner Zeit als Direktor der Stadtbibliothek wandte er sich einem für seine Leserinnen und Leser ungewöhnlichem Genre zu: der Science Fiction. Darin stellen die Arbeiten – hauptsächlich „Das Königsprojekt“, „Der Untergang der Stadt Passau“ und „An den Feuern der Leyermark“ – die Frage, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn sich Geringfügigkeiten anders ereignet hätten, und projizieren diese in die Zukunft. „Die Wallfahrer“ und sein letzter Roman „Das Geheimnnis der Krypta“ gehören ebenso in diese Kategorie, die Amery selbst als Sphagistik bezeichnete, entlehnt dem griechischen Wort „sphage“ für Niederlage.

Während Amery in den 90er Jahren keine Romane mehr verfasste, führte er seine essayistische Tätigkeit noch bis ins hohe Alter weiter. Hier zeigte er sich als hellsichtiger Realutopist und wahrer Citoyen, der nicht nur geschehen lassen will, sondern mitgestaltet. So ist der Essay „Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts?“ sicher einer seiner umstrittensten, da er die Frage nach faschistoiden Tendenzen in fundamental-ökologischen Ideologien stellt.

Amery hatte schon 1997 seinen Vorlass an das Literaturarchiv der Stadt München gegeben. So lagern heute insgesamt 518 Manuskripte, 166 biografische Dokumente und über 4.000 Briefe in 49 Kassetten bei der Monacensia. Die restlichen gut 90 Briefe und Manuskripte liegen im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Archiv der Akademie der Künste Berlin, in der Universität Rostock und im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Außerdem sind noch etliche Briefe in Privatbesitz und tauchen gelegentlich bei Auktionen auf. Ein Jahr nach seinem Tod (24. Mai 2005) wurde der Monacensia im Rahmen einer Gedenkveranstaltung der restliche Nachlass vermacht.

In unserer Serie „Dichternachlässe – ein kulturelles Erbe“ stellten wir bisher – neben einem Feature über das Sammeln und Verwahren von literarischen Nachlässen – den Vorlass von Herbert Achternbusch vor und den Nachlass Lion Feuchtwangers.