Götz Aly stellt den bayerischjüdischen Beamten Siegfried Lichtenstaedter vor.

Von Stefanie Bürgers

Siegfried Lichtenstaedter, geb. 1865, Kgl. Bayrischer Beamter, scharfsinniger Jurist, Münchner, gebildet, homosexuell, zeitweilig Nudist, war Jude. Er studierte nicht nur Rechtswissenschaft, sondern auch Orientalistik, Indogermanistik und Völkerpsychologie. Schon ab 1895 stellte er in zahlreichen Schriften glasklare und größtenteils treffsichere Prognosen zukünftiger politischer Entwicklungen bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinein. Diese entdeckt, ausgewählt und mit klugen Erläuterungen versehen zu haben ist das Verdienst des Politikwissenschaftlers und Historikers Götz Aly, Geschwister-Scholl-Preisträger 2018. In seinem Buch „Siegfried Lichtenstaedter. Prophet der Vernichtung“ bezeichnet Aly ihn als Meister der „rabenschwarzen Zukunftsgeschichtsschreibung“. Lichtenstaedter selbst nannte seine Voraussagen „Völkerpsychologie“ und analysierte konsequent, warum den Juden zwangsläufig Unterdrückung und Vernichtung drohen werde.

Anlässlich der Buchpräsentation im Literaturhaus lieh Udo Wachtveitl Siegfried Lichtenstaedter seine Stimme, tönend, warm und mit bayrischem Einschlag. Zusammen mit dessen Foto, das ihn im eleganten Maßanzug zeigt, formt sich ein rundes Bild des „Propheten“: ein eigener Kopf, mit scharfem Verstand, einem weiten Horizont und einer starken Verwurzelung in München. Lichtenstaedter hätte bayerischer Finanzminister werden können, was allerdings den Übertritt zum Christentum erforderte. Das wollte er nicht. Er hatte Überzeugungen und Rückgrat. 1942 wurde er im KZ Theresienstadt ermordet.

Seine Prophezeiungen verpackte der hellsichtige Beobachter seiner Zeit in Satire. Bereits 1903 kreierte er eine fiktive Zeitung, in der er einen Artikel mit Datum 23. Juni 1939 erscheinen ließ. Darin erfand er eine Sonnwendfeier der Deutschen Hochschülerschaft in Wien, während der die Studenten, angefeuert von einem „deutsch-volkischen“ Gefühl, alle von der Feier ausschlossen, die „noch nicht richtig vom deutschen Geiste durchdrungen waren.“ Noch zur Kaiserzeit erkannte Lichtenstaedter das Erstarken der nationalistischen Ideologie und rechnete mit der Anbindung Österreichs an das Deutsche Reich.

Vor allem aber war er ein feiner Beobachter des ganz allmählichen Wachsens des Nationalsozialismus gerade in München, „Anthropopolis“, wie er es nennt. In der Novelle „Der jüdische Gerichtsvollzieher“ empört sich die Stadt, da die einzige Stelle für das Amt des Gerichtsvollziehers mit einem Juden besetzt wird. „Das Amt läge damit zu 100 Prozent in jüdischer Hand“, lässt er die Anthropopolitaner sich erregen. Als die Situation Eigendynamik entfaltet, legt Lichtenstaedter humoristisch dar, wie zynische Rechtfertigungen, gepaart mit Borniertheit und subtiler Verweigerung zwangsläufig zur staatlich gedeckten Schikane der Juden führen müssen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich die Katastrophe vielleicht doch noch nicht ausmalen können. Heute bleibt einem sein Witz im Halse stecken.

Seine Leserschaft war klein. Dies war auch der Veröffentlichung unter Pseu-donymen geschuldet. Unter U.R.Deutsch etwa erschien der Titel „Briefe an einen antisemitischen Freund“. Mit ernsthaften Argumenten will der Briefeschreiber den Adressaten zur Abkehr vom Antisemitismus bewegen. Es ist zu spät. Lichtenstaedter selbst blieb sich treu. Von einem Besuch in Tel Aviv bei seiner Schwester kehrte er zurück und ging aufrecht dem Untergang entgegen. Er wäre zu alt, um zu arbeiten. Und als alter Mann wolle er seinen Verwandten nicht zur Last fallen.

Götz Aly (Hg.)
Siegfried Lichtenstaedter, Prophet
der Vernichtung
Mit drei begleitenden Essays des Herausgebers
288 Seiten, gebunden
S. Fischer 2019
22 Euro