Literatur als Anstoß – am Beispiel der Fotojournalistin und Autorin Julia Leeb

Von Michael Berwanger

Eine Woge der Nabelschau scheint die deutschsprachige Literatur erfasst zu haben. Zumindest bekommt man diesen Eindruck, wenn man sich die Vielzahl der Coming-of-Age-Geschichten vergegenwärtigt. Spätestens seit Matthias Brandts „Blackbird“ reißt die Flut der Selbstbespiegelungen aus bundesrepublikanischer Kinder- und Jugendzeit nicht mehr ab. Von Frank Gosen bis Alexander Gorkow, von Gerhard Köpf bis Peter Probst – seitenweise Literatur über Belanglosigkeiten, die mit wohlklingenden Worten von langweiliger, westdeutscher Saturiertheit erzählt. Dabei sind diese Romane – natürlich – oft recht hübsch geschrieben.

Die nächste Welle lässt sich schon ahnen: Corona-Bücher werden unsere Regale fluten, die das ach so schwere Leben in „Lockdown“-Zeiten thematisieren, in einer Konsumgesellschaft, die selbst die kleinste Verwerfung zumindest monetär abpuffert. Vor lauter Nabelschau könnte man glatt vergessen, dass es Regionen auf der Welt gibt, in denen sich das Leben für uns als unzumutbar anfühlen würde, selbst wenn dort gerade einmal Waffenstillstand herrscht. Nichts würden wir von all den Geschichten mitbegekommen, gäbe es nicht Menschen wie die Münchner Fotografin Julia Leeb, die aus Ländern berichtet, die uns westlichen Leser*innen oft noch nicht einmal dem Namen nach bekannt sind.

Moment mal – Fotografin? – Bericht? –
wo ist da die Literatur?

Seit über zehn Jahren reist die Filmemacherin und Fotojournalistin in Krisengebiete, um mit der Kamera jenen Menschen eine Öffentlichkeit zu geben, die sonst nie in Erscheinung treten. Nun hat sie mit dem kürzlich erschienen Band „Menschlichkeit in Zeiten der Angst“ begonnen, auch literarisch Zeugnis abzulegen von den Verwerfungen dieser Welt. Sie erzählt darin von einfachen Menschen – von Männern und, noch mehr, von Frauen –, die selbst in katastrophalsten Situationen noch Würde und Menschlichkeit zeigen. Ihre eigene Lage, ihre Angst und ihre Zweifel, spart Julia Leeb dabei nie aus.

Ägypten, Nordkorea, Kongo, Transnistrien, Sudan und immer wieder – Libyen. Julia Leeb fährt mit Jürgen Todenhöfer – Publizist und ehemaliger Medienmanager – durch die libysche Wüste Richtung Brega, der Rebellen-Hochburg am Mittelmeer. Mit im Wagen ihr Begleiter Abdul Latif, Übersetzer, Fremdenführer, Freund und Türöffner. In glühender Hitze rumpeln sie über staubige Pisten. Als sich drei Pick-Ups mit aufgepflanzten MGs nähern, steigt die Anspannung. Rebellen oder Gaddafi-Treue? Es sind Rebellen. Sie wollen sich ablichten lassen, als sie Julias Kamera sehen. Fröhlich zeigen sie mit Zeige- und Mittelfinger das Victory-Zeichen. Die allgemeine Anspannung fällt ab. Zwei Autos mit Familien überholen die Gruppe. Sie lachen und winken. Alle fahren weiter. Als sie kurz darauf erneut anhalten, um ausgebrannte, noch kokelnde Autowracks zu fotografieren, wird ihnen bewusst, dass es sich dabei um die Fahrzeuge jener Familien handelt, die sie zuvor fröhlich winkend überholt hatten, erkennen also zu spät, dass sie in einen Hinterhalt geraten sind. Julia Leeb und Jürgen Todenhöfer überleben den stundenlangen Beschuss. Ihr Begleiter Abdul Latif ist tot.

Die Sätze, in denen Julia Leeb von den Gräueln dieser Welt berichtet, sind nicht in wohlklingende Worte gepackt. Ihre Sprache ist eher spröde, zurückgenommen und fast arm an Emotionen. Aber die Geschichten fahren einem mit einer Intensität unter die Haut, dass man außenherum alles vergisst. Es sind Geschichten, die von dem erzählen, was wir so gerne verdrängen: Dreiviertel der Welt ist von Krieg und Hunger bedroht; weltweit finden derzeit – laut „Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ – 29 kriegerische Auseinandersetzungen statt. Das lässt Orte zu Krisengebiete werden , in denen Menschen leben, die nichts für diese Umstände können und die trotz allem Anteil und Menschlichkeit zeigen, gastfreundlich sind und das Wenige, das sie besitzen, teilen – auch und gerade mit Journalistinnen wie Julia Leeb. Vielleicht, weil sie ahnen, dass sonst ihr viel zu kurzes Leben ungehört oder ungelesen verrinnt.

Keine*r von uns möchte in solche – wie oben beschriebene – Situationen kommen, und jede*r hätte als Freund oder Freundin, als Mutter oder Vater ständig Angst um das Leben einer Julia Leeb, eines Nils Horner oder einer Anja Niedringhaus – letztgenannte ermordet 2014 in Afghanistan und Syrien. Die Zahl der seit 1992 während der Berufsausübung getöteten Journalist*innen wird von „Reporter ohne Grenzen“ mit 907 Personen angegeben. Trotzdem macht Julia Leeb weiter, erzählt uns die Geschichten von Krise und Angst und Menschlichkeit. Literatur, die viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

Und während wir uns fragen, warum sie sich das antut, warum sie sich solcher Gefahr aussetzt, dämmert uns die Antwort: weil wir es nicht tun.

Julia Leeb: Menschlichkeit in Zeiten der Angst
Reportagen über die Kriegsgebiete
und Revolutionen unserer Welt
Sachbuch, gebunden, 234 Seiten
Suhrkamp, Berlin 2021
18 Euro