Wolken sind vergänglich. Eben noch „weiß und ungeheuer oben“, im nächsten Moment „nimmer da“, wie Brecht in seiner „Erinnerung an die Marie A.“ dichtet. Kann man bei einer solch ephemeren Verfassung von einer Anatomie sprechen? Schon im Titel steckt der Teufel, der dem recht glücklosen Zusammentreffen der beiden Hauptfiguren in Lea Singers neuem Roman innewohnt. Johann Wolfgang von Goethe und Caspar David Friedrich teilen sich zwar das Interesse an Wolken, doch ihre Herangehensweise ist grundverschieden. Dem einen ist nur Dichter sein zu wenig, er möchte als Wissenschaftler reüssieren und mit der Erforschung der Wolken Ordnung in ihre Flüchtigkeit bringen. Sie wie ein Anatom auf dem Seziertisch zerlegen und in ein System festbannen. Zum blanken Entsetzen des anderen, für den Wolken die Sätze Gottes sind, mit denen dieser die Menschen anredet. Träume, die man nicht in Ketten legen kann. Friedrichs Wolkenbilder packen den Betrachter in seinem Inneren, Goethe erforscht Wolken als Wetterzeichen.

Lea Singers Spurensuche nach diesen zwei so entgegengesetzten Künstlernaturen ist amüsant, hintersinnig, traurig. Hier der Meister der Sprache, dort der Maler, dem vor seinen Bildern die Sprache fehlt. Hier der berühmteste Schriftsteller des Kontinents, leider mit einem höchst mittelmäßigen Kunstgeschmack ausgestattet, dort der Habenichts ohne Manieren, der die „Leere“ in seine Gemälde bannt. Bei deren Betrachtung es ist, „als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären“ (Zitat aus „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ von Clemens Brentano). Für Goethe „uferlose Bilder, uferloses Geschwätz“. Singer mischt virtuos Dichtung und Wahrheit, schiebt ihren beiden Protagonisten vor minutiös recherchiertem Tatsachenhintergrund fiktive Gedanken und Gefühle unter, holt sie aus ihrer geschichtlichen Ferne und ist durch die in direkter Rede geschriebenen Dialoge als Erzählerin dicht dran. Bei Friedrich glückt ihr die Aufhebung der historischen Distanz, zu diesem Menschen tritt man wie zu seinen Bildern in eine innere Beziehung, man empfindet mit ihm, seinem grobschlächtigen Wesen, hinter dem sich eine große Tiefe auftut. Goethe hingegen stößt sie von seinem Sockel des Dichterfürsten hinunter, gibt ihn dem allzu Menschlichen preis. Stellt ihn dar als einen, der mit seinem Alter, seinem Ruhm, seinen Eitel- und Fehlbarkeiten hadert. Der an den Gitterstäben seines Erfolges rüttelt, an den Erwartungshaltungen seiner Bewunderer und vor allem Bewunderinnen verzweifelt. Der revolutionär sein möchte, aber die bekämpft, die es wirklich sind. Ach Goethe …
Katrina Behrend Lesch

Lea Singer:
Anatomie der Wolken
Roman, 256 Seiten
Hoffmann und Campe, Hamburg, 2015
20 Euro