Fluchtgeschichten sind das Gebot der Stunde. Das letztjährige Literaturfest erhob sie zum Thema, so entstand seinerzeit aus Gesprächen von Münchner AutorInnen mit nach Deutschland Geflüchteten die Anthologie Die Hoffnung im Gepäck (Allitera Verlag). Fridolin Schley hat es damit nicht gut sein lassen, hat sein Gespräch mit einer jungen Somalierin weiter geführt und es zu einem Gefüge aus Wahrnehmung und Erinnerung verdichtet. In Die Ungesichter, einem schmalen Bändchen von knapp 100 Seiten, erzählt er die Geschichte des fünfzehnjährigen Mädchens Amal, das ein sorgloses Leben in einem Dorf in Somalia führt, bis die Islamisten kommen, den Vater ermorden und Amal verschleppen. Sie muss den „Patronenmännern“ zu Diensten sein, kann sich befreien und soll von einem dubiosen Schleuser zusammen mit dem ihr zugesellten „Bruder“ Cariim angeblich nach London geflogen werden, landet jedoch in Kiew. Es beginnen die quälenden Wochen des Wartens im ukrainischen Winter, einer missglückten Grenzüberschreitung, der monatelangen Festsetzung in einem slowakischen Lager, bis die beiden es schließlich schaffen, über Wien nach München zu gelangen.

In einem einzigen atemlosen Satz hält Schley seine Erzählung und mit ihr die Protagonistin in Bewegung, gibt dem Gedankenflow Raum, springt zurück in die Erinnerung, fällt in den Stillstand der Verzweiflung, rafft sich zögernd wieder auf, „… bis Amal die Augen schließt, während Cariim sie zu einem Sitzplatz führt, bis der Zug anfährt, sie ihre Augen wieder öffnet – und ihr Herz weiterschlägt.“ Jetzt kann Schley seinen Punkt setzen, sein Fluchtmädchen zur Ruhe kommen lassen, wenn auch nur symbolisch, denn wir wissen, dass vieles noch nicht gut ist. Ungesichter waren es, sind es wahrscheinlich noch immer, die Amals Flucht begleiten, böse, gleichgültig, mitunter auch freundlich. Es ist ihr Schicksal, aber es steht für das Schicksal aller Flüchtlinge, in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft.
Katrina Behrend Lesch

Fridolin Schley
Die Ungesichter
Mit Illustrationen von Thomas Gilke
100 Seiten
Allitera Verlag, München 2016
14,90 Euro