Und was wollen Sie in den nächsten fünf Jahren bei uns erreichen?” Der Personalchef – er hieß Dr. Schneider –, spielte gedankenverloren mit seinem Füllfederhalter, während er mir diese Frage stellte. Die Frage aller Fragen.

Natürlich hatte ich in den Handbüchern für Bewerber geblättert und dort die Antwort auf die Frage aller Fragen gefunden: Karriere, Geld, Betriebsklima. Aber wenn ich ehrlich war, gab es nur einen Grund, warum ich mich als Marketingassistent bei diesem Touristikunternehmen beworben hatte: Ich hegte die vage Hoffnung, auf diesem Job eine Weile zu parken, bis mir eine bessere Idee kam. Das Unternehmen hatte auf mich die Anziehungskraft einer Zeitung, die seit drei Tagen im Rinnstein liegt. Mir war klar, dass ich mit dieser Motivation in den Augen meines Gegenübers den Text der Stellenanzeige nicht einmal hätte lesen dürfen; geschweige denn, mich bewerben.

Marketing sei meine Lebensaufgabe, antwortete ich. Nichts könne mich davon abbringen, ein Produkt von seiner schönsten Seite zu betrachten. Es sei fast – und dabei lächelte ich mein Gegenüber verschwörerisch an – wie der Umgang mit einer schönen Frau. Auch eine Lebensaufgabe, fügte ich hinzu.

Dr. Schneider nickte vielsagend und warf mir einen Blick über seine Goldrandbrille zu als wolle er abschätzen, zu welcher der beiden Lebensaufgaben ich besser geeignet sei. Dann blätterte er mit gequälter Miene in meinen Unterlagen.

Was die Karriere betreffe, fuhr ich fort, so sähe ich in diesem Unternehmen die besten Voraussetzungen. Dies sei ja auch der Grund, warum ich mich beworben hätte. Hochgesteckte Ziele, oberstes Niveau, Leistungswille, Teamgeist, Selbstverwirklichung, Innovation.

„Ja, ja“, kam es gelangweilt von der gegenüber liegenden Schreibtischseite. „Was mich interessiert, ist, welche besonderen Fähigkeiten Sie für diese Aufgabe mitbringen. Präsentieren Sie mir etwas von sich, das mich überzeugt.“

Das Eintreten der Sekretärin bewahrte mich vor einem vorzeitigen Ende des Gesprächs. Während sie den Kaffee servierte und ihrem Chef eine Mappe auf den Schreibtisch legte, blickte ich mich im Raum um. An einer Wand hing „Der apokalyptische Reiter“ von Kandinsky. In meinem letzten Büro waren es
Hieronymus Boschs „Visionen aus dem Jenseits“ gewesen. Bestand das Arbeitsleben in letzter Konsequenz aus schlechten Kunstdrucken in wechselnder Reihenfolge?

„Zucker?” fragte Dr.Schneider.

„Danke, ja”, antwortete ich.

Eine Weile lauschten wir schweigend dem Klang der Kaffeelöffel. Ich hatte im Selbstversuch verschiedene Klangmuster ausprobiert und mir das wirkungsvollste antrainiert: frisch, offen, schwungvoll.

„Sie haben also im Bestattungswesen gearbeitet”, sagte er, und warf wieder einen Blick auf meine Unterlagen. „Darf ich fragen, was Sie bewogen hat, sich in der Touristikbranche zu bewerben?”

Bewogen, bewegen, Beweggründe.
Eigentlich trifft man im Bestattungswesen dieselben Leute wie in der Touristikbranche – nur ein bisschen später und weniger unternehmungslustig.

Mein Gegenüber trommelte jetzt ungeduldig mit seinen manikürten Fingern auf der Glasplatte. Es hörte sich an wie das Pferdegetrappel in einem Western. Mir kam eine Idee und ich wagte einen Vorstoß: „Können Sie sich an Klaus Kinski erinnern?” fragte ich. „Diesen Film Leichen pflastern seinen Weg, in dem Kinski einen Kopfgeldjäger spielt?“

Abrupt hörte das Pferdegetrappel auf. Der Gaul war stehen geblieben und hob fragend die Nüstern.

„Die revolutionäre Neuerung des Films bestand darin, einen Western im Schnee zu drehen”, fuhr ich fort.

Mein Gegenüber sah mir fest in die Augen und sagte nichts.

„Es gibt eine Stelle in diesem Film”, fuhr ich fort, „an der Klaus Kinski in den Schnee pinkelt. Das ist es, was ich erreichen möchte: Spuren hinterlassen.”

Im Blick meines Gegenübers spiegelte sich die vage Sehnsucht, ein Telefonanruf möge unser Gespräch unterbrechen.

Aber das Telefon läutete nicht und auch keine Sekretärin unterbrach die Anspannung. Stille herrschte im Raum.

„Ja”, setzte Dr. Schneider schließlich in gedehntem Tonfall an, während er seine rot gepunktete Krawatte zurechtrückte.
„Das war zweifellos ein interessanter Film.” Dabei blickte er kurz auf seine Uhr, als wolle er mir klarmachen, dass ich sein Zeitbudget schon erheblich strapaziert hatte.

„Filmgeschichtlich interessant”, unternahm ich einen letzten Versuch, „aber vom Marketingkonzept her geradezu umwerfend: In den Schnee pinkeln …”

„Jaaahh.” Es dauerte eine Weile, ehe Dr. Schneider fortfuhr: „Wir sind hier allerdings mehr an der Sache orientiert.
In der Touristikbranche sind die von Ihnen genannten Bilder etwas … äh … unpassend.“

Das war ein schlechtes Zeichen. Ich sah, wie Kinski das Gleichgewicht verlor und mit einem Mark erschütternden Schrei in die Tiefe stürzte.

„Wenn wir noch einmal zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurück kommen könnten“, hörte ich Dr. Schneider sagen. „Was möchten Sie in den nächsten fünf Jahren bei uns erreichen?“

Ich blickte auf. Durch die Glasplatte des Schreibtischs konnte ich die Farbe der Socken meines Gegenübers erkennen. Anthrazitgrau. Ich fragte mich, welchen Grauton ich in diesem Unternehmen annehmen würde. Mir fiel wieder die verblasste Zeitung im Rinnstein ein.

„Herr Dr. Schneider“, sagte ich, „ich will für Ihre Firma unerreichbar sein.”

Helmut Schmid,
gekürzte Fassung der im MLB
am 3.3.2017 gelesenen Version