Marx, welchen meinen Sie? Also, wir haben Marx R. im Angebot, den Münchner Kardinal, der sich geschickt durch Talkshows schlängelt in dieser Kruzifixsache und anderen lebenswichtigen Dingen, und Marx K., den Ökonomen, der für alles eine Lösung hat. Aber Marx K., den Lyriker? Und dies ist schließlich ein Literaturblatt! Hier bitte: „Nimmer kann ich ruhig treiben,/Was die Seele stark erfaßt,/Nimmer still behaglich bleiben,/Und ich stürme ohne Rast.“ Romantische Schule, um 1837. Dem Engländer Stedman Jones haben wir’s zu danken, dass er in seiner aktuellen Karl Marx-Biographie diese vergessene Poesie ausgegraben hat. Von wegen „stürme ohne Rast“. Vater Heinrich Marx, ein gestrenger Rechtsanwalt, dem Karl seine Gedichte geschickt hatte, war schwer beunruhigt. Er drang auf eine juristische Staats-Karriere, mochte die Lyrik seines Filius nicht sonderlich und starb, noch ehe „Karl“, wie Jones ihn familiär nennt, beruflich Fuß fasste. Was ihm sowieso nie gelang. (Übrigens auch bei R. Marx könnte man fragen: Ist Kardinal ein ernsthafter Beruf? Aber lassen wir das.) Eine Journalistenkarriere, ein Staatsamt, auch eine Philosophische Professur – alles scheiterte am strengen Berufsverbot der Karlsbader Beschlüsse (1819). Zensur, Ausweisung und Exil. 1841 wurden noch Karls Gedichte „Wilde Lieder“ publiziert, danach ging nichts mehr. 

Kaum waren Karls politische Ideen an die Macht gelangt, wurden in seinem Namen auch Lyriker „gesäubert“ und verfolgt, Mandelstam, Brodsky und viele andere. Verteidiger seiner Ideen versuchten, diese gegenüber der sowjetischen Politpraxis abzugrenzen, bis in den 70ern des letzten Jahrhunderts schwere Steine von Frankreichs jungen Philosophen auf Karl geworfen wurden: sein ganzer Ansatz sei totalitär und führe direkt ins Verderben des Gulag.
Östlich des Rheins hingegen wachsen jetzt wieder Marx-Statuen. Aber ja, schwingt nicht in Karls Lyrik (und, etwas weiter gedacht, in jeder Lyrik: schlechthin!) dieses Rigide, Totale? Wird hier nicht alles Private erfasst und einem Kontrollwunsch unterworfen? Die sogenannte Liebe fordernd, keinen Widerspruch duldend? Vor allem, wenn er seine Verlobte Jenny von Westphalen andichtet, ja, da ist Karl echt radikal-totalitär!

Genau hier kommt jetzt der Metternich-Adlatus Markus Söder ins Spiel: Er hat scharf erkannt, dass es höchste Zeit ist für ein neues „Karlsbad“. Psychiatrie-Gesetz, vorbeugende Polizei-Festnahmen, zeitlich unbegrenzt! Das Kruzifix-Symbol in jede bayerische Amtsstube, das wird man doch konsequent weiter spinnen können, man nennt es harmlos „retro“: Bei jeder Eheschließung, jeder Einschulung, das Kruzifix, für 19,50 Euro ein tolles Präsent vom Landesvater.

Und wer’s zurückweist, der Undankbare, wird halt ein kleines bisserl überwacht: Gefährder! Selber schuld! Wo bitte bleiben eigentlich Dr. Söders Gedichte?

WH.