Wilfried Blecher, Illustrator und Preisträger des Deutschen Kinder- und Jugend-Literaturpreises, zum 90. Geburtstag

Von Katrin Diehl

Als im September 1949 die Internationale Jugendbibliothek in der Kaulbachstraße ein Zuhause gefunden hatte, da gab es für die Kinder kein Halten mehr. Sie stürmten die vom Krieg ein wenig ramponierte Villa, und was sie dort erwartete, war weitaus mehr als bloßes Lesefutter. Denn Jella Lepman, 1936 vor den Nazis von Deutschland nach England geflohen und von den Amerikanern als Leiterin der Bibliothek eingesetzt, dachte größer. Die von Sorge und Angst geprägten Kinder durften musizieren, durften unter der Anleitung von Erich Kästner Theater spielen, konnten sich in Sachen Demokratie üben, Gästen wie Erika Mann, Thornton Wilder oder Carl Zuckmayer lauschen oder sich ans Malen machen. Dafür standen im verwunschenen Garten, der bis an die Rückseite der Staatsbibliothek heran reichte, Staffeleien bereit. Einer der „Mallehrer“, die den Kindern mit Rat und Tat zur Seite standen, war Wilfried Blecher.

Wilfried Blecher lebt heute in einem Münchner Seniorenheim, und wenn man ihn anruft und fragt, wie es ihm in diesen seltsamen Zeiten so gehe, antwortet er sachlich bis heiter, „den Umständen entsprechend gut“. Sein 90. Geburtstag, den er in großer, schöner Runde Anfang Mai hatte feiern wollen, fand stark reduziert und den „Umständen entsprechend“ statt, und „wie gut, dass es das Telefon gibt“, an dem sich vom Heute und Gestern reden lässt.

Erinnerungen liegen bei Blecher nicht tief vergraben. Wie schnell sie wachzurufen sind, erfährt, wer Interesse zeigt an seinen Arbeiten, wissen will, wie das so war an dieser oder jener Akademie, mit diesem oder jenem Kollegen, dieser oder jener Kollegin, in dieser oder jener politischen Stimmungslage der alten, beizeiten bleiernen „BRD“. Was Blecher als Künstlernatur während seines gesamten kreativen Lebens auszeichnete, ihn bis heute ausmacht, ist  ein freier Geist gepaart mit der ewigen Lust am Experimentieren, aber da ist auch ein starker Hang zu handwerklicher Perfektion. Was unter seinen Händen entstand, war durchdacht und hatte, so fragil das Material auch sein sollte, zu funktionieren. Hampelmänner, die er fertigte, hielten was aus, hingen als Hingucker wie warnende Beispiele für fremdbestimmtes Holzkopfdasein an der Wand, boten Kindern aber eben auch die lustige Möglichkeit, endlich mal jemanden nach der eigenen Pfeife tanzen zu lassen.

Manche von Blechers Lebensgeschichten könnten sich ohne weiteres in die Bilderabfolgen hineinmogeln, die man aus seinen Büchern kennt. Und wer weiß, vielleicht haben sie das auch getan. Jedenfalls bekommt, wer sich mit ihm unterhält, einen wichtigen wie wertvollen Einblick in die bundesdeutsche Kinderbuchlandschaft der 60er und 70er Jahre. Auf die hatte er prägend Einfluss. Wilfried Blecher, Illustrator, Grafiker, Texter…, gehört zu den wenigen Personen, die den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis gleich zweifach  erhalten haben. Das war einmal für seinen „Wo ist Wendelin?“ im Jahr 1966 und dann, vier Jahre später, fürs „Verwandlungsbilderbuch“ „Kunterbunter Schabernack“. Früh greift Blecher – immer auch leidenschaftlicher Pädagoge und Anwalt des selbstbestimmten Kindes – früh greift er die Idee des „interaktiven“ Buches, wie man das heute nennt, auf. Beim „Wendelin“ geht es ums Suchen und Finden eines Jungen, der sich ständig verwandelt, im „Schabernack“ lassen sich auf einer mehrfach geteilten Seite verschiedene Wesen immer wieder neu zusammen setzen. So kann man dem Polizisten mit schwingender Keule Mäusefüße an den Bauch zaubern. Eine Freude für all diejenigen (samt deren Kinder!), denen beim gemeinsamen Aufbegehren – wir sind Ende der 60er Jahre – der Humor nicht völlig abhanden gekommen war.

Seine Ausbildung hat Wilfried Blecher, 1930 in Hamborn bei Duisburg geboren, an der Staatlichen Schule für Handwerk und Kunst in Kassel sowie an der Akademie der bildenden Künste in Stuttgart – dort lehrte er später auch – gemacht.

Im Reichtum seiner Bücher, Umschlaggestaltungen, Illustrationen lässt sich schwer ein eindeutiges Erkennungsmerkmal, ein einheitlicher „Stil“ ausmachen. Dafür probierte er zu gerne aus, versuchte sich in neuen Techniken, forderte die Bilderbuchmacher heraus, weil er wollte, dass die Kinder die Seiten knicken, falten, in die Länge ziehen können sollten…, Vorstellungen, die manchmal an den Produktionskosten scheiterten. Blechers Bilderbuchwesen verwandeln sich häufig und voller Lust (eine Lieblingsbeschäftigung zum Beispiel seines „schlauen blauen Hahns“ aus dem Jahr 1966), gerne in Phantasiegestalten mit leicht dämonischen Zügen. Und immer wieder lässt er die Kinder in seinen Bildergeschichten sich auflehnen gegen machthungrige Erwachsene.

In München ist Wilfried Blecher schon lange zuhause. Mit einer Freundin zusammen gründet er das „Licht- und Schattentheater München“. 2008 steht eine Operation am grauen Star an. Die geht schief. Wilfried Blechers Kopf lag nicht richtig in der Operationsschale. Der Patient wird „halbblind“ nach Hause entlassen. Sechs Nachoperationen werden nötig mit dem Ergebnis, dass er ein knappes Jahr lang gar nichts mehr sieht. Es folgen Depressionen und Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, wo sich langsam, langsam das Sehvermögen wieder einstellte, Blecher wieder zu malen beginnt, ein Büchlein macht über seine Erfahrungen als „Blinder“, das einen – zur gleichen Zeit – Lachen wie Weinen macht. Und er wird wieder zum „Lehrer“ bei den „Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte“ in Giesing, malt mit den Menschen dort und lässt sie Figuren aussägen, die seinen Bilderbüchern entsprungen sein könnten.

Einige Helferinnen und Helfer des Seniorenheims, in dem Wilfried Blecher seit 2017 ein recht schönes Zimmer bewohnt, hat er zu deren Vergnügen und Erstaunen abgezeichnet, auch einige der Bewohner. Und man ist nicht sicher, was noch kommt.