Lena Goreliks starker autobiografischer Roman „Wer wir sind“

Von Slávka Rude-Porubská

Der Buchstabe Я, zugleich der Begriff für „Ich“, steht im russischen Alphabet ganz am Ende. Diese vom Alphabet vorgegebene Ordnung findet sich auch in der Staatsdoktrin der ehemaligen Sowjetunion wieder, in der das Kollektiv stets den Vorrang vor dem Individuum hat. Wie erfährt man also das eigene Ich – und wie erzählt man darüber? Es ist die kleine Alltagsszene mit der Heizung in der sowjetischen Hochhaussiedlung, an der die Münchner Autorin Lena Gorelik in ihrem neuen Roman das Erlebnis des selbstbestimmten Handelns festmacht. Zentral gesteuert, im Spätherbst in allen Wohnungen der Fünf-Millionen-Stadt Sankt Petersburg hochgefahren, im Frühjahr heruntergedreht, ist das persönliche Wärme- und Kälteempfinden in der Sowjetunion eindeutig Sache der Parteizentrale. Nach dem Übersiedeln der Familie nach Deutschland – die 1981 geborene Gorelik kommt Anfang der 1990er Jahre mit ihrer Familie als „Kontingentflüchtling“ nach Baden-Württemberg – dann die Erfahrung mit den Drehknöpfen an den Heizköpern: „Die Herrlichkeit der Macht, ich will es wärmer, ich. (…) Ich drehte an dem schönen Rädchen herum, wir waren zu Menschen mit eigenen Kälteempfindungen geworden.“

Das Oszillieren zwischen „Ich“ und „Wir“, zwischen der Autonomie und dem Miteinander ist der Grundton des autobiografischen und der Chronologie der Familiengeschichte folgenden Textes. In Erinnerungen, in nie ausgesprochenen Fragen und immer neuen Anläufen sucht die Ich-Erzählerin Lena nach sich selbst; sie erhebt den Anspruch auf die eigene Stimme, die eigens erzählte Geschichte. Poetin soll sie werden, schreibt der geliebte und zu früh verstorbene Onkel Ljowa in einem Brief zu Lenas Geburt. Und sie macht sich ans Erzählen, an das Geschichten-Sammeln: Ich „dichte ein Leben, Zeile für Zeile. (…) Zwischen den Zeilen lasse ich Platz. Für alles, was wir beschweigen, für den Respekt. Für alles, was uns zusammenhält.“ Suchend und tastend schreibt sich das „Ich“ aus dem „Wir“ heraus; erstens aus dem ideologisch postulierten homogenen „Wir“ des sowjetischen Volkes, in dem Opa Lenin der Großvater für alle Kinder im Land war. Die Realität in dem zerfallenden Land lässt jedoch die Grenzziehung zwischen „Wir“ und „Ihr“ immer deutlicher werden, sei es in dem verächtlichen „Jewrejka“ (Jüdin), das eine Schulkameradin Lena zuruft, oder in dem aggressiven „Drecksjude“, das Lenas Vater im überfüllten Zug auf der Rückfahrt von der Datscha nach Sankt Petersburg entgegen tönt.

Zweitens ist da die Ablösung aus dem „Wir“ der Familiengemeinschaft: In einer ungeschönt offenen wie poetischen Sprache greift Gorelik die Erinnerungen aus dem emotionalen Gedächtnis des hochbegabten Mädchens auf, das sich in Deutschland schnell die neue Sprache erschließt und das in der neuen Heimat „mögenswert“, angekommen und angenommen sein will. Des Mädchens, das mit dem entwürdigenden Schamgefühl kämpft: für das Zuhause in der mit Stacheldraht umzäunten Baracke des Asylbewerberheims; für die beruflichen „Schritte rückwärts“, die die Eltern – beide Diplomingenieure – in Hilfsjobs und in Zeitarbeit führen und für deren starken Akzent. Des Mädchens, das Mitleid empfindet mit den Eltern, die an der Bürde der selbstauferlegten Aufgabe zu scheitern drohen, für die bessere Zukunft und das Glück der Kinder zu sorgen, wofür ihnen die pubertierende Tochter die Schuld gibt.

Mit dem Thema der kulturellen Zugehörigkeit beschäftigt sich Lena Gorelik auch in ihren journalistischen Texten. Ihr hervorragender und tiefgründiger Roman, in dem sie durch die Integration vieler russischer oder jiddischer Begriffe der Vielstimmigkeit ihrer Biografie Raum gibt, entwirft mit literarischen Mitteln eine Identität, die auf Erweiterung statt Ausgrenzung setzt. Und die eben auch Geschichten und Erinnerungen integriert, die „verschwiegen, verkürzt, übersetzt, falsch oder gar nicht verstanden, beweint und verraten“ wurden.

Lena Gorelik: Wer wir sind
Roman, gebunden, 320 Seiten
Rowohlt Berlin, Berlin 2021
22,00 Euro