Zur Frage: Wer darf welche*n Autor*in übersetzen?

Von Ursula Sautmann

Als Amanda Gorman bei der Inauguration des neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden ihr Gedicht „The Hill We Climb“ vortrug, hat sie sich an die Welt gewandt. Nicht überall wird der Text verstanden, er muss übersetzt werden. Es braucht also Übersetzer*innen, um dem Text Geltung zu verschaffen. Meist entscheiden die Verlage in Absprache mit dem*r Autor*in über die Auftragsvergabe, sagt Tanja Handels, die seit 2003 literarische Texte aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt, u.a. von Zadie Smith und Bernardine Evaristo. Übersetzer*innen bewerben sich oder werden empfohlen. Für das Gedicht von Amanda Gorman hatte ein niederländischer Verlag Marieke Lucas Rijneveld den Auftrag erteilt. Rijneveld ist eine junge weiße, non-binäre Lyrikerin. Sie gab den Auftrag zurück, als kritisiert wurde, dass keine Schwarze Übersetzerin gewählt wurde. „Ist es nicht mindestens eine verpasste Chance…?“, fragte die Journalistin Janice Deul in einer niederländischen Tageszeitung.

Der Vorfall wurde zum Anlass für eine Debatte über die Frage: Wer darf wen übersetzen? Handelt es sich um kulturelle Aneignung, wenn ein*e weiße*r Übersetzer*in eine*n Schwarze*n Autor*in übersetzt?

Übersetzer*innen werden erst seit überschaubar vielen Jahren im Literaturbetrieb namentlich genannt. „Wir stehen staunend davor, dass wir plötzlich so wichtig sind“, wundert sich Tanja Handels. Und sie freut sich. Denn Übersetzen ist ein harter Job. Er findet im Stillen statt, fordert Durchhaltevermögen, Erfahrung und tiefe Kenntnisse der Ausgangs- wie auch der Zielsprache. Übersetzen ist ein Aufbaustudiengang, Tanja Handels ist seit 2004 Lehrbeauftragte für Übersetzung Englisch-Deutsch an der LMU München. Übersetzer*in werde man selten, so Handels, mit Anfang 20, und dann oft im Zweitberuf. Es brauche Expertise und Einfühlungsvermögen. Zugleich setze der Beruf aber auch voraus, mit schlechter Bezahlung und geringer Beachtung zurechtzukommen. „Wir stehen nie in der ersten Reihe, da gehören wir auch nicht hin“, formuliert Tanja Handels so entschieden wie unprätentiös. An der Sichtbarkeit immerhin wird seit einigen Jahren gearbeitet. Handels ist 1. Vorsitzende des Münchner Übersetzer-Forums, eines Vereins, der sich der Fortbildung und der Interessenvertretung verschrieben hat.

Beim Übersetzen geht es darum, einen fremden Text zu verstehen, zu durchdringen, ja, ihn sich anzueignen, um ihn zu überführen in eine andere Sprache und damit immer auch in einen anderen Kulturraum. Über-setzen ist die sprachliche Brücke von einer Erfahrungswelt in eine andere. Ton, Farbe, Stimmung eines fremden Textes müssen erfasst und übertragen werden. „Verstehen“, schreibt Pieke Biermann in der SZ vom 9. März dieses Jahres zum Thema, Thema, laufe über „Anverwandlungen, bei denen man immer sich selbst aufs Spiel setzt“. Ziel ist, den Text für die Leser*innen eines anderen Kulturraums zu erschließen. Hautfarbe und Geschlecht „sollten keine Rolle spielen, das widerspricht dem, was wir machen“, sagt Handels. Der zu übersetzende Text habe immer eine Fremdheit. „Wir übersetzen Texte, nicht Menschen“, stellt sie klar. Und literarische Texte sind ja selbst oft ein Spiel mit Identitäten, nehmen sich die Aneignung des Fremden heraus.

Tanja Handels erwähnt am Beispiel von „Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo, wie unvorhersehbar und überraschend Literatur wirken kann. Die Sprache im Buch hat einen ganz speziellen Ton, sehr britisch und Schwarz, möchte man kurz formulieren, wenn man Klischees nicht scheut. Schwarz steht hier für mehr als eine Hautfarbe und nicht nur für die kollektive Erfahrung jahrhundertelanger Unterdrückung und Ausbeutung, sondern eben auch für Überlebensstrategien und tradiertes Wissen, für den Kampf um Anerkennung, Gerechtigkeit und Chancengleichheit (in Anlehnung an Sharon Dodua Otoo in ihrer Rede zur Übergabe des Bachmannpreises). Handels erzählt, dass Evaristo Zuschriften von weißen Männern aus der working class bekommen habe, die sich im Text wiedergefunden hätten. In der Übersetzung von Handels wird diese Überschreitung von Grenzen durch Hautfarbe und Herkunft erfahrbar.

Weiße können und dürfen Schwarze Autor*innen übersetzen. Und es muss Schwarze Übersetzer*innen geben, nicht nur für Schwarze Literatur. Das sei, wie Janice Deul anmerkte, auch eine Frage von Bildungsgerechtigkeit und verlegerischer Sensibilität. „Die westliche Buchbranche ist mit überwältigender Mehrheit weiß, das bildet die Lebensrealität nicht ab“, stellt Handels im Gespräch fest. Auch im Münchner Übersetzerforum sind nur wenige People of Colour vertreten. „Ich wünsche mir eine Welt, in der alle, die es wollen, Übersetzer*in werden können“, sagt Handels. Solidarität ist da eine unverzichtbare Voraussetzung. Und um die ungerechte Verteilung beim Bildungszugang, bei Teilhabe und gesellschaftlicher und sozialer Macht auszuhebeln, braucht es eine besondere Förderung Schwarzer Übersetzer*innen; Preise und Stipendien sind da ein bewährtes Mittel.

Sicherlich wäre es ein ganz eigenes Statement, wenn sich für das Gedicht von Amanda Gorman überall auf der Welt Schwarze Übersetzerinnen finden ließen. Allerdings war die Wahl Marieke Lucas Rijnevelds für die Übersetzung ins Niederländische Presseberichten zufolge in Absprache mit Amanda Gorman gefallen. Hätte es in diesem Fall nicht der Respekt geboten, die Entscheidung zu akzeptieren? Am Ende, das bleibt festzuhalten, kommt es auf den Text an.