Von Linda Benedikt

Ich hatte einst ein Kind. Ich kam zu ihm, wie die meisten Frauen zu Kindern kommen; es waren auf jeden Fall keine außergewöhnlichen Umstände.

Die Schwangerschaft verlief ohne Beschwerden, die Geburt war kurz und das Kind gesund. Ich gab ihm gerne meine Brust, war angetan von seinen blinden Blicken und hin und weg von seiner neugeborenen Frische. Die von Hungerschreien zerbrochenen Nächte störten mich nicht. Ich schubste sachte seine Wiege, wenn es greinte, legte es mir über die Schulter, wenn ich schrieb und korrigierte meine Texte, wenn es schlief.

Das Kind wuchs beständig, fast wie zufällig und blieb so anspruchslos wie es auf die Welt gekommen war. Es aß Blattspinat ebenso gerne wie altes Brot, und wenn ich eine seiner Mahlzeiten einmal vergaß, beschwerte es sich nicht. Es trug blumige Kleidchen so freudig wie kurze Hosen, verweigerte weder Kniestrümpfe im Winter noch Sonnenhüte im Sommer. Seine besten Freunde hießen Teo, Amira und Werner und es spielte mit allem, was es fand. Zu meinem Geburtstag brachte das Kind mir Sandkastenkuchen, rupfte und zupfte kleine Sträuße aus Kräuter- und Blumenkästen oder buk mir eine Sachertorte.

Dass das Kind Zeit seiner Geburt kein Wort verloren hatte, und ich auch nie den Eindruck gewann, dass es Wörter zu verlieren hätte, störte mich nicht.

Warum und wann ich mich darüber zu wundern begann, erinnere ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass aus meinem wabernden Wundern der konkrete Wunsch erwuchs, das Schweigen meines Kindes zu brechen.

Von da an leitete ich jedes Gespräch mit einer Frage ein. Ich wollte wissen, ob es sein Superman T-Shirt anziehen wollte oder lieber das mit der Maus. Ich frug, ob es an den Fluss wollte oder in den Schreibwarenladen. Ich teilte alle meine Gedanken mit ihm und forderte seine Meinung dazu ein. Das Kind schwieg.

Aus meiner Verwunderung wurde zündelnde Provokation: Weder meine Empfindlichkeiten noch Ängste versteckte ich mehr vor dem Kind. Ich nahm, wie vor der Geburt des Kindes, mein tage- und nächtelanges Schreiben wieder auf. Ich versteckte weder meine amourösen Eskapaden noch meine seelischen Bruchlandungen. Ich ertrank offen meinen Liebeskummer oder starrte abwesend in staubige Ecken meines Arbeitszimmers. Ich nahm das Kind mit in den Wald, wenn ich Bäume anschrie und blind vor Tränen war. Wenn es gewitterte, versteckte ich mich wimmernd vor Angst in meinem Bett und war das Unwetter vorbei, fluchte ich derb vor Erleichterung. Das Kind schwieg.

Es murrte nicht, es wunderte sich nicht; es schaute weder argwöhnisch noch perplex. Es lachte weder weniger, noch weinte es mehr. Es war wie es immer war. Ich hielt es kaum mehr aus. Ich schrieb in dieser Zeit die schlechtesten Manuskripte, die, zu meinem überraschten Grausen, nicht nur verlegt und häufig rezensiert wurden, sondern auch wirtschaftlich erfolgreich waren. Wenn wir an Buchläden vorbeigingen, in deren Schaufenster meine Bücher lagen, bekam das Kind rosa Backen vor Aufregung, mir wurde der Atem knapp. Es schnitt Besprechungen aus Zeitungen aus, die es zuvor von seinem Taschengeld gekauft hatte, und überreichte sie mir, in korrekter zeitlicher Abfolge abgeheftet, in einem von ihm dekorierten Ordner.

Ich nahm die erstbeste Lesereise an, die mir angeboten wurde. Das Kind packte meine Reisetasche, richtete mir Proviant und winkte mir aus dem Fenster zu, als ich zum Bahnhof ging. Ich bekam meine ersten Migräneattacken und während der Lesung verschwammen mir die Buchstaben vor lauter Übelkeit.

Als ich Zuhause ankam, holte mich mein Kind vom Zug ab. Da begann mein Magen sich derart zu verzurren, dass ich keinen Bissen mehr herunterbekam. Stattdessen begann ich mit dem Rauchen und schüttete Enzianschnaps und Magenbitter hinterher.

Ich wurde so kraftlos, dass ich mich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. das Kind brachte mir Kamillentee, klare Hühnersuppe und Zwieback ans Bett. Ich bekam Weinkrämpfe. Das Kind ließ mich nicht mehr aus den Augen. Als es einmal kurz das Haus verließ, um einzukaufen, warf ich eine Münze: Kopf stand für das Kind, Zahl für mich. Aber die Münze rutschte mir aus der fahrigen Hand und verschwand zwischen Matratze und Bettrahmen.

Da nahm ich meine letzte Kraft, ging in das Zimmer des Kindes und packte ihm einen Koffer. Ich legte seine Lieblingshosen, Kleider, Blusen und Pullover hinein. Ich vergaß seinen Teddybär nicht und auch nicht sein Holzschwert. Ich nähte meine Kreditkarte in die Innentasche seines gefütterten Wintermantels ein und schrieb den dazugehörigen Pin mit einem Filzstift auf die äußere Kragenseite. Ich nahm eine grüne Karteikarte, schrieb den Namen des Kindes darauf und die Adresse seines Vaters. Dann lochte ich sie und fädelte sie auf eine Schnur auf.

Als das Kind zur Haustür hereinkam, nahm ich ihm seine Einkäufe ab, zog ihm seinen Mantel an und hängte ihm das Schild um den Hals. Ich nahm das Kind in eine Hand, seinen Koffer in die andere und winkte ein Taxi heran.

Am Flughafen angekommen, kaufte ich am Schalter einer amerikanischen Fluglinie ein One-Way-Ticket nach Las Vegas und gab den Koffer auf.  Dann brachte ich das Kind zum Check-In. Ich kniete mich vor ihm nieder, richtete seinen Mantelkragen, stellte sicher, dass sein Namensschild gut sichtbar war und verabschiedet mich. Das Kind stand still, blinzelte kurz, nahm seinen Koffer und ging.

Als es durch die Sicherheitskontrolle hindurch war und ich es nicht mehr sehen konnte, durchsuchte ich die Kontakte in meinem Mobiltelephon. Als ich den Namen seines Vaters gefunden hatte, schrieb ich ihm eine kurze Nachricht mit der Ankunftszeit des Flugzeuges.

Dann nahm ich eine S-Bahn zurück in die Stadt, ging in meine Wohnung, verschloss die Kinderzimmertüre zweimal und warf den Schlüssel in den Mülleimer. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und schaute aus dem Fenster in den bewölkten Himmel.