Der hoch gebildete literarische Mensch, wenn er von Zeit zu Zeit aus seinen Büchern aufblickt, aufhorcht, muss sich eingestehen, dass – sofern er nicht dreifachverglast und schalldicht energetisch saniert lebt – es ein Draußen gibt. Und dass von dort draußen um diese Jahreszeit ein unglaubliches Zwitschern, Keckern und Tirrillieren zu ihm hereindringt, das ihn kaum noch konzentriert seinen Homer oder Sloterdijk im Original studieren lässt. Hauptakteur ist nicht etwa der Grünspecht, der nach Art der Literaturkritiker gern ein schrilles Hohnlachen ausstößt, das er in 4-5 Terzen abwärts vorträgt. Was ihm für 2014 verdientermaßen den Titel „Vogel des Jahres“ eingebracht hat. Er ist stark bedroht und lebt von kleinsten Vergnügungen, von Ameisen zum Beispiel. Hauptdarsteller vielmehr ist die Amsel, die schon von Shakespeare (450) in jenem 3. Akt von „Romeo und Julia“ mit der Lerche verwechselt wird, denn was sollte schon eine Lerche im städtischen Verona zu suchen haben – vor dem Morgengrauen singen nur die Amseln.

Sie haben in ihrer großen Mehrheit auf ihren winterlichen Ausflug nach Marokko verzichtet, sich den feuchtkalten Winter Münchens um die Schnäbel geschlagen und ihre Energie ganz der Kunst geweiht anstatt dem sinnlosen Hin- und Hergefliege. Lyriker wie Paul McCartney („Blackbird in the dead of night“) und Sarah Kirsch („…Darling flüstert die Amsel“) haben sie dafür in ihren Werken verewigt. Der kriegsverwirrte Robert Musil hat ihr (post gerrum) eine Erzählung („Die Amsel“) gewidmet, in der er Jugend, Kriegsgrauen und Muttersehnsucht verbindet mit einem mystischen Amselerlebnis, als könnte diese unscheinbare Künstlerin mit ihrer dunklen Herkunft und Kraft seine Wunden heilen. Als würde sie als geheimnisvolle Botin einer anderen Welt Grenzen mühelos durchfliegen – eine sehr wahrscheinlich von Selbstzweifeln durchdrungene Thomas Mannsche Künstlerexistenz, die, inzwischen dickbauchig und schwer, irgendwann in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts beschlossen hat, den winterlichen Fernflug zugunsten ihrer ökologischen und künstlerischen Ideale aufzugeben und sich ganz und gar der Musik hinzugeben. Wobei die fliegenden Troubadoure den schönen Nebenzweck verfolgen, das fruchtbarste Weibchen anzulocken. Auch hier dem schon erwähnten Thomas Mann ganz ähnlich.

Dass die Amsel gelegentlich auch andere plagiiert, ohne die Quelle anzugeben, muss als der kleine modische Makel gelten, den man Großen gern vergibt. So könnten wir uns alle an den Händen nehmen und das Glück durch Tirrillütirrütirrü mit gespitzten Mündern für uns ganz erfassen, gäbe es nicht diesen Schönheitsfleck der Vogelforschung: dass angeblich nur die Männchen schön singen. Doch Schluss jetzt. Dieser Genderdiskurs ist denn doch ein weites, allzu weites Feld zwischen München und, nun ja, dem Amselfeld.
WH.