Der Schmerz kam schlagartig und sofort mit voller Wucht.

Nach einer Aspirin und einer Stunde gekrümmt auf dem Sofa wählte ich Berts Nummer. Kein Empfang. Das kannte ich schon. Blieb nur Greta, meine Assistentin, aber Greta kam gerade heute eben nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.

Als hätte er das eingesehen, gab mein Leib plötzlich Ruhe. Schweigen da unten. Vielleicht bekam ich doch nur meine Tage. Allein in dieser absurd großen Wohnung, gefangen zwischen Fensterscheiben, die sich nicht öffnen ließen. Ich sah hinunter auf die Siebenmillionen-Niemandsstadt nahe der Grenze zur Mongolei. Novembersmog. Winzige Autos bewegten sich durch den gelblichen Nebel, aus dem die Hochhäuser ragten wie schlechte Zähne.

Das am Freitag mit Greta wäre mir vor ein paar Wochen noch nicht passiert. Sie hatte in der Datei für die Präsentation wieder das falsche Logo verwendet, in dem das W mit dem M vertauscht war. „Diese unendliche chinesische Blödheit!“, brüllte ich durchs Großraumbüro, außer Kontrolle geraten, eine Rassistin war ich, und Greta stand auf, die gemeinte Chinesin, die sich ihren seltsamen Vornamen aus Ehrfurcht vor den deutschen Vorgesetzten selbst verliehen hatte. Das war so üblich.

„Oh, vergessen“, sagte sie und trippelte auf ihren zehn Zentimeter Lackpumps um den Schreibtisch herum. Sie war besonders bemüht gewesen in den letzten Tagen, weil es um die Hochzeit ging. Auch das war üblich, die Vorgesetzten gingen zur Hochzeit und hielten Lobreden.

„Ich werde nicht zu deiner Hochzeit kommen“, sagte ich. „Und merk dir das endlich mit dem Logo, Greta, hörst du?“

Der Schmerz kehrte zurück, und diesmal blieb mir die Luft weg. Ich bekam richtige, kalte, schweißnasse Angst. Und wählte Gretas Nummer, denn jetzt war es schon egal.

Meine Assistentin ging jedoch dieses eine Mal nicht ran. Mailbox.

Ich wartete. In der Küche über die Spüle gebeugt, ständig ganz kurz davor, mich zu übergeben. Ich trank ein Glas Wasser.

Wie sterbensallein sie war, diese Frau in der Küche im 39. Stock mit dem Glas Wasser in der Hand. Sie war mir fremd.

Zweiter Versuch: „Es tut mir leid, Greta! Melde dich, wenn du das hörst, bitte! Ich fahre jetzt mit dem Taxi ins blaue Krankenhaus. Vielleicht ist Dr. Mayers da.“

Im blauen Krankenhaus tummelten sich die Menschen, alle wollten dran kommen, eine alte Frau schubste mich, ich schubste zurück. Alle wollten drankommen, sie hielten Geldscheine hoch. Vorne beim Tresen zeigte ich mein Handy, auf dem Display die Übersetzung meiner deutschen Eingaben.

„Dr. Mayers? Ist Dr. Mayers da?“, fragte ich.

Keine Antwort. Nur eine Armbewegung, das hieß wohl nach oben, und ich ging nach oben.

Ein Wartezimmer, Frauen, ich wählte Bert an, aber eine Schwester deutete erbost auf das Zeichen an der Wand: Handys verboten.

Dann spürte ich die Feuchtigkeit. Ich sah an mir herunter. Ein dunkler Fleck breitete sich aus. Ich brauchte eine Toilette, unbedingt, suchte den Gang entlang, aus der Feuchtigkeit wurde Nässe, meine Socken sogen sich voll, die Turnschuhe.

Das Toilettenschild. Der Gestank wie eine Wand. Nichts als eine Rinne, über die man sich hockte. Es war nur eine weitere Frau da, sie hockte schon. Ich zog meine Hose herunter und hockte mich auch. Aus mir heraus kam ein hellroter Strahl. Die Frau neben mir entleerte sich. Sie war hochschwanger.

Was sollte ich tun? Unten in Wellen die Krämpfe, es gab ja nur noch unten, oben war ich nicht mehr da, oben war ich leer. Und dann spürte ich ein Etwas aus mir herausschwämmen, ein Klümpchen, mit einem Schwall, es wurde ruhiger in mir ohne dieses Etwas, der Schmerz ließ nach, obwohl das Blut weiter floss, immer weiter.

Ich fing an zu schreien. Die Frau neben mir schaute in die Rinne, Entsetzen im Gesicht und jammerte etwas, ich verstand sie nicht und schrie weiter. Die Frau stand auf, säuberte sich hastig, und ich flehte sie an: “Holen Sie Hilfe!“

Aber sie blieb da, zog mich hoch und presste mir ein Tuch zwischen die Beine. Dann deutete sie auf sich und machte die Zahl drei mit der Hand, lächelte und zeigte auf ihren hochschwangeren Bauch.

In dem Moment wusste ich es. Dr. Mayers hatte gesagt, ich könne nicht schwanger werden. Ein Irrtum. Jetzt wusste ich auch, was die Frau mir hatte sagen wollen. Ich packte ihre Hand, und ich sagte: „Xie Xie.“ Danke.

Mehr schaffte ich nicht mehr. Ich knickte ein.

Die Frau rannte hinaus, die Schwester kam und zerrte mich auf einen Rollstuhl, schob mich in einen Saal mit etlichen Gynäkologenstühlen nebeneinander, auf allen Frauen wartend, auf einen wurde ich gehievt, eine Schüssel zum Auffangen des Blutes unter mir.

Neben mir klopfte ein Gerät: Die Herztöne eines Föten. Während ich das hörte, wurde ich ruhiger. Ich sah auf meine Füße, die nassen Socken.Und dann tauchte ein glitzernder Pandabär zwischen diesen Füßen auf, auf einem pinkfarbenen T-Shirt, eine schwarze Brille und eine Bärchenhaarspange. Ich fing sofort an zu weinen. Greta umarmte mich.

„Chefin!“, rief sie, „Chefin!“ und drückte mich fest und sagte: „Dr. Mayers kommt, ich habe gesagt, Sie sterben.“

Ich schluchzte immer lauter. „Greta, es tut mir so leid.“

Sie wischte das mit einer Handbewegung weg. „Das waren nur Hormone. Nicht Sie, Chefin, Hormone. Das sind Biester.“

Ich bemühte mich zu lächeln, heulte aber weiter.

„Ich werde auf deiner Hochzeit…“

„Schluss damit. Erst Auskratzung, dann Hochzeit.“

Jetzt lächelte ich tatsächlich.

„Ich war schwanger,“ sagte ich.

Greta biss sich auf die Lippe, streichelte meinen Fuß in der blutigen Socke, beugte sich dann über mich und flüsterte: „Einmal schwanger, wieder schwanger. Sie müssen nur Sex haben.“

Sie kicherte. Und hielt meine Hand.

Heike Duken

(Stark gekürzte Version der Sieger – Geschichte des Haidhauser Werkstattpreises 2013)